Berlin. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, im Gespräch über Corona-Impfungen, Kurzarbeit und Nöte von Kindern in Hartz IV.

In der Pandemie ist Detlef Scheele einer der wichtigsten Krisenmanager Deutschlands. Als Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit (BA) ist es sein Job, den deutschen Arbeitsmarkt durch die Corona-Krise zu lotsen. Eine neue Infektionswelle ab Herbst hält er für besser beherrschbar – auch wegen der Impfungen.

Wir stehen vor einer vierten Corona-Welle. Kann sich Deutschland einen „Delta-Herbst“ mit erneutem Lockdown leisten?

Detlef Scheele: Nein. Besonders Branchen wie das Gastgewerbe, der Einzelhandel und der Tourismus, die eher spät aus dem Lockdown herausgekommen sind, werden das kaum noch einmal verkraften können. Darum darf es aus meiner Sicht nicht erneut so kommen. Ich glaube aber auch nicht, dass das passiert.

Warum nicht?

Scheele: Die derzeitige Lage in der Pandemie ist nicht zu vergleichen mit jener im vergangenen Frühjahr. In Deutschland ist inzwischen mehr als die Hälfte der Menschen vollständig geimpft. Deshalb hat die Ministerpräsidentenkonferenz neue Regularien festgelegt, die zum Beispiel zwischen Geimpften und Nichtgeimpften unterscheiden. Das ist nach meinem Dafürhalten auch sinnvoll, damit der Arbeitsmarkt insgesamt nicht wieder in eine so schwierige Lage gerät.

Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit,  glaubt, dass eine weitere Corona-Welle das Land heute weniger hart treffen würde.
Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit, glaubt, dass eine weitere Corona-Welle das Land heute weniger hart treffen würde. © Photothek via Getty Images | Florian Gaertner

Wie steht es um den Arbeitsmarkt?

Scheele: Er erholt sich derzeit gut, und es sollte besser keinen erneuten Rückschlag wegen Corona geben. Die Arbeitslosigkeit steigt normalerweise im Juli, diesmal ist sie gesunken. Wir haben zudem im Mai 244.000 Kurzarbeiter weniger gehabt. Im Juni dürfte die Kurzarbeit unter 1,5 Millionen gesunken sein. Wenn es keinen Unterschied zwischen Geimpften und Ungeimpften gäbe, wäre diese Entwicklung gefährdet.

Lesen Sie auch: Diese Jobs werden nach der Corona-Pandemie gefragt sein

Die Zahl der Kurzarbeiter ist insgesamt gesunken, etwa in Handel und Gastronomie. Nun finden die Branchen kein Personal mehr. Wo sind die vormals im Gastgewerbe Beschäftigten untergekommen?

Scheele: Viele Gastronomen haben in der Tat erhebliche Probleme, ihr Personal zurückzugewinnen. Als die Beschäftigten nicht arbeiten konnten oder mit dem niedrigeren Gehalt in der Kurzarbeit waren, haben sich viele umorientiert. Sie sitzen nun an der Kasse im Supermarkt oder helfen in den Impfzentren. Häufig arbeiten sie auch in Bereichen, wo man eine geregelte Arbeitszeit und freie Wochenenden hat. Der Wettbewerb mit Branchen, die die Gastronomie vorher gar nicht im Blick hatte, ist eine Herausforderung.

Auch interessant: Hunderttausende suchen mehr als vier Jahre nach neuem Job

Trotz Milliardengewinnen haben VW, Daimler und BMW Kurzarbeitergeld bezogen – und teils sogar eine höhere Dividende als im Vorjahr an ihre Aktionäre ausgeschüttet. Ist das moralisch vertretbar?

Scheele: Die gesetzliche Regelung ist so, dass die Gewinne keine Rolle spielen, sondern dass nur der unabdingbare Arbeitsausfall und leer geräumte Arbeitszeitkonten die Voraussetzung sind. Ich habe gelernt, dass es einen Unterschied zwischen Legitimität und Legalität gibt. Dieses Spannungsverhältnis ist hier hart betroffen. Da sollte sich jeder an die eigene Nase fassen und sich fragen, was er eigentlich gerade tut.

Die Pandemie hat sich auch auf Hartz-IV-Haushalte ausgewirkt. Welche Beobachtungen machen Sie bei Kindern und Eltern in Grundsicherung?

Scheele: Die befristet geltenden Regelungen, auf eine Einkommens- und Vermögensanrechnung und auf die Prüfung der Wohnraumgröße zu verzichten, haben sich bewährt. Mit Blick auf die Kinder stelle ich fest, dass sich einige Parteien eine Art Kindergrundsicherung wünschen, damit Kinder nicht an den Erwerbslosenschicksalen ihrer Eltern hängen. Ich finde es richtig, die Situation der Kinder dauerhaft zu verbessern. Aber ich vermisse bis heute ein Eckpunktepapier des Gesetzgebers, wie so etwas ganz konkret funktionieren könnte.

Lesen Sie hier: Hartz IV: Deswegen steigt die Zahl der Langzeitarbeitslosen

Sind die Kinder aus Hartz-IV-Familien die großen Krisenverlierer?

Scheele: Die Kinder und die Jugendlichen sind nicht nur durch ihre materielle Lage, sondern vor allem auch durch die Schulschließungen besonders betroffen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen schwierigen Lebenslagen und geringem Schulunterricht. Diejenigen, die zu Hause wenig Hilfe erhalten und die nun frühkindliche Bildung in den Kitas und Lernstoff in der Schule verpasst haben, haben in der Pandemie am meisten gelitten. Und da es kein Schulessen mehr gab, ging es für viele Familien auch ins Geld.