Essen. . Im Gespräch mit WAZ-Chefredakteur Tyrock erklärt Prof. Dittmer (Uniklinik Essen), wieso man mit allen Mitteln Präsenzunterricht sichern sollte.

In einem Live-Interview hat der Chef-Virologe der Essener Uniklinik, Prof. Ulf Dittmer, betont, man müsse trotz der hochinfektiösen Delta-Variante des Corona-Virus' unbedingt vermeiden, dass die Schüler im nun beginnenden Schuljahr erneut in den Distanzunterricht müssen. Dies gelte auch aus medizinischen Gründen: Die Schäden, die die Kinder durch Distanzunterricht und mangelnde Sozial-Kontakte erlitten hätten, seien enorm.

Zum Start des neuen Schuljahres hatte der Wissenschaftler in einem Live-Interview mit WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock Fragen unserer Leser rund um Corona beantwortet.

Auszüge:

Leserin Nicola Tang ist unsicher, ob ihr 16-jähriger Sohn sich impfen lassen sollte – auch wenn die Stiko dies nun empfiehlt:

  • Die Stiko war lange zurückhaltend mit einer Empfehlung, Kindern ab 12 Jahren zu impfen, weil Daten über Impfnebenwirkungen für diese Altersklasse bisher nicht in ausreichender Menge vorhanden waren. Inzwischen jedoch liegen internationale Daten vor – und die zeigen: Es gibt einerseits nur sehr wenige Fälle von Nebenwirkungen. Gleichzeitig gibt es aufgrund der Ausbreitung der Deltavariante eine erhöhte Anzahl von Covid-Erkrankungen bei Kindern. Aufgrund der veränderten Nutzen-Risiko-Abwägung kann man die Impfung ab einem Alter ab 12 Jahren also nun empfehlen.

Leserin Stefanie Lorenz fragt: Die Delta-Variante löst offenbar häufiger als bisherige Varianten schwere Verläufe bei Kindern aus – was wissen wir darüber?

  • Ja, es gibt US-Daten, die darauf hindeuten. Ob diese aber uneingeschränkt übertragbar sind auf Deutschland, ist noch nicht sicher. Es gibt zum Beispiel in den USA sehr viele Kinder, die durch Übergewicht vorbelastet sind. Zusammengefasst kann man sagen: Ja, es gibt mehr erkrankte Kinder aufgrund der Delta-Variante. Aber im Moment sehen wir in Deutschland noch nicht, dass es mehr schwere Verläufe gibt. Das kann immer noch nicht abschließend beurteilt werden.

Und was wissen wir über Long Covid bei Kindern:

  • Darüber wissen wir noch viel weniger. Es gibt eine größere Studie in Deutschland, die sogar darauf hinweist, dass es so etwas wie Long Covid bei jüngeren Kindern vielleicht überhaupt nicht gibt. Viele der beschriebenen Nebenwirkungen nach einer Infektion waren bei einer nicht erkrankten Vergleichsgruppe genauso groß und vermutlich durch den Lockdown ausgelöst. Erscheinungen wie Mattigkeit, Unkonzentriertheit, psychische Schwankungen könnten auch durch solche Rahmenbedingungen ausgelöst worden sein.

Was wissen wir über PIMS?

  • Diese Entzündungskrankheit bei Kindern nach Covid ist wirklich sehr, sehr selten und gut behandelbar. Die Erkenntnisse, die wir darüber inzwischen gesammelt haben – wie auch über die ebenfalls eher seltenen Herzmuskelerkrankungen, haben zu der Einschätzung der Stiko geführt, dass das Risiko des Impfens vertretbar sei.

Herbert Zemke aus Essen fragt nach einer Einschätzung über die Folgen der fehlenden Impfbereitschaft:

  • Aufgrund der weiterhin großen Zahl an Ungeimpften werden wir keine Herdenimmunität erreichen. Die eigentlichen Treiber der Pandemie sind nun die Ungeimpften. Denn bei den Geimpften haben wir nur sehr vereinzelte Impfdurchbrüche – im Promillebereich. Und es wird daher ab Herbst eine Pandemie der Ungeimpften geben, die uns wieder zu härteren Einschränkungen zwingen wird.

Sandra Hüstermann: Und wie soll man mit ungeimpften Lehrern und ErzieherInnen umgehen?

  • Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass Infektionen zumeist von Erwachsenen in die Schulen und Kitas getragen werden: durch Personal oder Eltern oder Verwandte. Deswegen müsste man eigentlich verlangen, dass Menschen, die regelmäßig mit größeren Gruppen von Kindern arbeiten, geimpft sein müssten oder – und das gibt die Verordnung nun auch her – sich verpflichtend jeden Tag testen lassen müssen.

Müssen wir wie andere europäische Staaten über eine Impflicht für bestimmte Berufsgruppen nachdenken?

  • Vor allem im medizinischen Bereich müssen wir das tun. Klinikpersonal etwa, das täglich mit immungeschwächten Patienten zu tun hat – etwa an Krebs erkrankten Menschen - der muss geimpft sein, weil er ein lebensbedrohliches Risiko für diese Patienten darstellt.

Leserin Stefanie Lorenz und Leser Sascha Brennessel beschäftigt die Debatte um die Luftfilter-Geräte in den Schulen: Die Viruslast bei der Deltavariante ist deutlich höher als bei bisherigen Varianten – reichen dann die bisher marktüblichen Systeme aus, um die Infektionsgefahr im Klassenzimmer zu reduzieren?

  • Die Frage ist berechtigt – bisher gab es fast nur ältere Wirkungstests für solche Geräte. Wir sollten uns aber sowieso nicht allzuviel von solchen Geräten versprechen. Es stimmt, sie helfen dabei, Aerosole zu verringern. Strömungsforscher haben jedoch nachgewiesen, dass solche Geräte nicht im gesamten Raum wirken, sondern vornehmlich im Nahbereich. Solche Geräte werden also unsere Probleme in den Klassenräumen nicht wirklich lösen. Der politische Streit um diese Geräte ist also komplett überbewertet. Sie können eínen kleinen Beitrag leisten – aber um wirklich Wirkung zu erzielen, müsste man mehrere Geräte pro Raum installieren – das kann dann keiner mehr bezahlen.

Mehrere Leser stellten sich die Frage, ob es angesichts der Delta-Variante und der ausbleibenden Herden-Immunität nicht illusorisch ist, im Präsenzunterricht bleiben wollen?

  • Infektionsketten lassen sich nicht in jedem Fall verhindern. Aber durch die vorhandenen Hygienekonzepte, eine ausgeweitete Testung und Beibehaltung der Maskenpflicht können wir das allermeiste verhindern. Was wir aber in jedem Fall verhindern sollten, ist Distanzunterricht. Die Schäden – auch medizinische, die den Kindern bereits durch Unterrichtsausfälle und Distanzunterricht im vergangenen Jahr zugefügt wurden, die sind immens. Daher müssen wir dringend am Präsenzunterricht festhalten. Auch aus medizinischen Gründen! Da brauchen die Schulen Hilfe – und das ist in den vergangenen Monaten leider nicht sonderlich gut gelungen.

Stichwort Quarantäne: An den Schulen sollen nur die direkten Sitznachbarn eines infizierten Kindes ebenfalls in Quarantäne: Ist das realistisch? Kinder spielen zum Beispiel auch im Schulhof gemeinsam.

  • Wenn wir das Ziel verfolgen, den Präsenzunterricht weitestgehend zu sichern, dann ist das die realistischste Variante. Wenn wir ganze Klassen in Quarantäne schicken, dann lässt sich sehr schnell kein Präsenzunterricht mehr gestalten. Zudem haben wir in Essen bei Modellversuchen sehr gute Erfahrungen mit dieser Regel der Quarantäne im engsten Umkreis gemacht. Damit wurden Infektionsketten regemäßig unterbrochen. Wichtig dabei: Wir brauchen weiterhin unbedingt den Mund-Nase-Schutz an den Schulen. In England und USA wurde der Zwang zu Mund-Nase-Schutz an den Schulen aufgehoben – und riesige Infektketten waren die Folge.

In der vollen Fassung (siehe Video) gibt der Virologe zudem einen Ausblick auf die weitere Entwicklung der Pandemie und erklärt, warum wir Corona dringend vornehmlich als medizinisches Thema behandeln müssen - und nicht als ein politisches.

Auch interessant