Israel/Gaza. 15 Sekunden Zeit, um in einen Lufschutzraum zu kommen: Eine Familie aus Israel berichtet, wie sie die jüngsten Angriffe erlebt hat.

Yifat steht auf dem Balkon und blickt über die Grenze. Dort drüben liegt Beit Lahiya, eine Stadt mit rund 40.000 Einwohnern. Als Teenager war Yifat oft dort. In ihrem israelischen Dorf Netiv HaAsara gab es kaum etwas zu kaufen, „aber drüben in Gaza konnten wir richtig shoppen“, erzählt sie. Jetzt ist alles anders. Yifat kann die Häuser ihrer Nachbarstadt nur noch vom Balkon aus sehen. Ob sie jemals wieder ins Auto steigen und einfach so über die Grenze fahren kann, ist völlig ungewiss.

Ein Betonwall zieht sich durch die Landschaft, wo in Yifats Jugend nur Felder waren. „Meine Söhne haben diese Gegend nie anders kennengelernt“, sagt die zweifache Mutter. „Wenn ich ihnen erzähle, dass man früher mal frei reisen konnte, sehen sie mich nur mit großen Augen an.“

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Isreal: Seit zwanzig Jahren fliegen die Raketen

Yifat ist 52 Jahre alt. Wenn sich in ihrer Region politisch etwas Großes ereignete, bekam sie das oft am eigenen Leib zu spüren. Als sie elf Jahre alt war, schlossen Israel und Ägypten Frieden. Israel versprach, alle jüdischen Siedlungen im Sinai zu räumen. Yifats Familie lebte im Sinai. Sie mussten die Koffer packen und alles zurücklassen, was bisher ihr Zuhause war. Und sie zogen hierher, nach Netiv HaAsara, direkt an der Grenze zu Gaza.

„Ich liebe es hier, das ist mein Zuhause“, sagt Yifat. Auch wenn es sich manchmal so anfühlt, als wollte dieses Zuhause sie abschütteln. Seit zwanzig Jahren fliegen hier die Raketen. Die Welt kriegt davon nur etwas mit, wenn es so richtig hochkocht, wie Mitte Mai. Elf Tage lang krachte es. Über 4000 Raketen wurden aus Gaza Richtung Israel gefeuert. Die meisten davon zielten auf die grenznahen Wohngebiete, zu denen auch Netiv HaAsara zählt

Hier hört man nicht nur die Raketen, die auf Israel gefeuert werden, sondern auch die Fehl- und Testschüsse. „Die Abschussrampen stehen ja gleich da drüben“, sagt Yifats Mann Amnon, und zeigt mit dem Finger hinter sich, als flögen die Raketen aus dem Kühlschrank, der in seinem Rücken steht. Und wenn die israelischen Bombardements die Städte in Gaza treffen, dann kracht es auch hier.

„Am schlimmsten war es, als sie die Tunnel beschossen“, sagt Amnon. Einen möglichst großen Teil des Tunnelsystems der Hamas zu zerstören, gehörte zu den wichtigsten Zielen der israelischen Armee. „Es dauerte sechs Stunden lang und es fühlte sich an wie ein starkes Erdbeben“, erzählt Amnon.

15 Sekunden Zeit, um in den Luftschutzraum zu kommen

Die Söhne, 13 und 10 Jahre alt, schliefen im Luftschutzraum. Sicher fühlten sie sich auch dort nicht. Eines Nachts, erzählt Yifat, begann der ältere Sohn zu weinen und hörte nicht mehr auf. „Wie lange geht das noch“, sagt der 13-Jährige, „ich halte das nicht mehr aus“.

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Yifat, Amnon und die beiden Söhne. Die Familie lebt nahe der Grenze zu Gaza.
Yifat, Amnon und die beiden Söhne. Die Familie lebt nahe der Grenze zu Gaza. © Maria Sterkl

Viele Familien zogen damals zu Freunden im Norden, um das Ende der Eskalation abzuwarten. Auch Yifats Familie stand vor der Wahl, für mehrere Tage zu Amnons Schwester in die Nähe von Tel Aviv zu ziehen. „Aber dann fragten wir die Kinder, ob wir gehen sollen“, erhählt Yifat. Die Kinder sagten nein. „Hier kenne ich jeden Zentimeter und muss keine Sekunde überlegen, wohin ich laufen muss“, habe der ältere Sohn erklärt.

Im Ernstfall kann das lebensrettend sein. Nur 15 Sekunden Zeit haben die Bewohner Netiv HaAsaras, um zum Schutzraum zu gelangen. Jedes Haus hat einen solchen Raum eingebaut, aber auch über die Siedlung verstreut finden sich immer wieder Minibunker, bunt bemalt, mit Tierfiguren und indischen Mandalas.

Netiv HaAsara ist eine Landwirtschaftssiedlung. „Früher waren viele unserer Erntehelfer aus Gaza“, erzählt Yifat, heute werden diese Jobs von Gastarbeitern aus Thailand verrichtet.

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Der Staat zahlt die Therapie der Familie

Jede Woche drei Mal fährt Yifat zur Psychologin. Einmal für Sohn Omer, einmal für Sohn Ron, einmal für sich selbst. Die Einzeltherapiestunden helfen, mit der ständigen Angst zu leben.

Als es im Mai wieder krachte, veränderte sich Ron. Der Zehnjährige verlor bei jeder Kleinigkeit die Fassung. „Ich fragte ihn: Was willst du essen? Und er ging in die Luft, wie ein Feuerwerk.“

Die Therapie wird vom Staat bezahlt. Yifat nimmt sie erst seit dem Gazakrieg 2014 in Anspruch. „Als es vorbei war, sagte der Premierminister: 'Ihr könnt jetzt zur Routine zurückkehren.' Aber ich war völlig erschöpft, konnte nicht mehr aus dem Bett, und ich dachte nur: Routine? Welche Routine?“