Berlin. Die Herdenimmunität bedeutet das Ende der Corona-Pandemie. Doch nicht alle wollen sich impfen lassen. Braucht es jetzt Impf-Strafen?

Wer die Herdenimmunität sucht, wird ausgerechnet in einem Virusvariantengebiet fündig: in Portugal. Mitten in Atlantik auf der 5.000 Seelen-Insel Porto Santo sind 98 Prozent der erwachsenen Bevölkerung geimpft, 70 Prozent vollständig. Die sieben aktiven Fälle von Covid-19 gehen bezeichnenderweise auf das Kind eines Touristen zurück. Die Herdenimmunität ist überall in Europa das Idealziel, aber nicht überall so nah wie auf der Madeirainsel.

Die US-Datenbank „Worldometer“ errechnet die Wochentrends für jedes Land. Zuletzt ist die Zahl der Neuansteckungen im Vergleich zur Vorwoche in Luxemburg um 413 Prozent gestiegen, in Malta um 171 Prozent, in Griechenland um 97, in Dänemark und Finnland um 84, in Großbritannien um 68, in Spanien um 65 , in Portugal um 53, in Irland, Tschechien und in den Niederlanden um 36 und in Frankreich um 27 Prozent.

Herdenimmunität, wenn 85 Prozent geimpft oder genesen sind

Der Anstieg liegt an der ansteckenden Delta-Variante. Der „Schlüssel zum Erfolg“ bei der Eindämmung ist, wie Weltärzte-Präsident Frank Ulrich Montgomery gegenüber unserer Redaktion betont, „eine möglichst hohe Durchimpfung der Bevölkerung“. 55,6 Prozent der Bundesbürger sind geimpft, 37,8 Prozent vollständig.

Klassischerweise geht man von einer Herdenimmunität aus, wenn 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung gegen den Erreger geschützt sind; sei es durch Impfung, sei es auf natürlichem Weg, weil sie die Krankheit überstanden haben.

Das setzt voraus, dass sich der Erreger in diesen Personen nicht vermehren kann, erläutert der Hannoveraner Wissenschaftler Reinhold Förster, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, unserer Redaktion. Bloß: Bei Sars-Cov-2 sind die Voraussetzungen hierfür nicht gegeben.

Denn: Menschen können das Virus übertragen, obwohl sie selbst nicht erkrankt sind. Zum anderen können auch Menschen, die geimpft und vollkommen symptomfrei sind, das Virus weitergeben.

„Man muss davon ausgehen, dass das Virus auf Dauer nicht verschwinden wird“, warnt Förster. Nur leicht optimistischer klingt Montgomery, wenn er erklärt, „die Herdenimmunität ist kurzfristig nicht erreichbar.“ Man sei in den Rechenmodellen von 65 auf etwa 85 Prozent hochgegangen. Drei Gruppen lassen dieses Ziel als illusionär erscheinen.

Gruppe der Impfgegner besorgt die Politik

18 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 16 Jahre. Für sie fehlen teils die Vakzine, teils eine Empfehlung. „Solange diese Gruppe gar nicht oder wenig geimpft ist, werden wir keine Herdenimmunität bekommen“, mahnt Förster.

Einige Menschen – vermutlich im kleinen einstelligen Prozentbereich – müssen aus gesundheitlichen Gründen Medikamente einnehmen, die ihr Immunsystem unterdrücken. Und deswegen können sie im Einzelfall gar nicht oder nur mit einer eingeschränkten Wirksamkeit geimpft werden.

Die dritte Gruppe treibt die Politik aktuell scheinbar am meisten um: Eine Befragung von 20.500 Bundesbürgern ergab, dass 17 Prozent unentschlossen sind und 16 Prozent eine Impfung sogar komplett ablehnen.

EMA- Vollständige Corona-Impfung schützt gegen Delta-Variante

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    „Viele Impfverweigerer der zweiten Runde sind auch solche, die AstraZeneca nicht haben wollen“, berichtet Montgomery. Es wird gar nicht anderes übrig bleiben, als ihnen halt andere Vakzine anzubieten, sodass sie die Impftermine auch einhalten.

    Auf Anreize und nicht auf Strafen setzt auch der Städte- und Gemeindebund. „Völlig kontraproduktiv wäre ein weiteres Bürokratiemonster durch Verhängung von Bußgeldern, wenn jemand einen Impftermin nicht wahrnimmt“, sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg unserer Redaktion. „Das wird viele Menschen davon abhalten, die vielleicht verunsichert sind, überhaupt einen Impftermin zu vereinbaren.“

    Ums Verrecken keine Impfung

    „Die zehn Prozent, die sich ums Verrecken nicht impfen lassen wollen, werden ihre Immunität erreichen, indem sie eine Erkrankung durchmachen“, meint Montgomery. Er ist überzeugt, „das wird dann auch geschehen, wenn wir alle Vorsichtsmaßnahmen fallen lassen“.

    Ein Unsicherheitsfaktor ist die Frage ist, wie stark Geimpfte das Virus weitergeben. „Man weiß, dass dies in einzelnen Fällen vorkommt. Man kann es nicht komplett ausschließen. Es passiert, aber es ist kein Massenphänomen“, sagt Montgomery.

    Deswegen sei es in unserem Interesse, „dass all die Länder um uns herum dieselbe Immunitätslage haben wie wir“, gibt Montgomery zu bedenken, der gerade von einer Tagung im Vatikan zurückgekehrt ist. Die Chance eine Impfung zu bekommen, sei in Afrika 62 Mal mal geringer als in den USA. „Es gibt Kontinente, da wären die Leute froh, wenn die bekämen, was wir inzwischen aus einer gewissen Laxheit heraus als nicht gut genug betrachten“.