Brüssel. Neuer Ärger mit dem Belarus-Diktator: Benutzt er Migration als Waffe? Die EU stärkt den Grenzschutz, ein Land ruft den Notstand aus.

Flüchtlinge aus dem Nahen Osten kommen immer öfter über Belarus in die Europäische Union. EU-Politiker sind sicher: Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko schleust die Flüchtlinge gezielt zu uns – offenbar als Antwort auf die europäischen Sanktionen nach der Kaperung eines Passagierflugzeugs. Litauen hat den Notstand ausgerufen, nachdem innerhalb von 24 Stunden über 150 Migranten über das östlichen Nachbarland Belarus eingereist sind und Asyl beantragt haben.

„Lukaschenko will die Flüchtlinge als Waffe benutzen, um unsere Entschlossenheit zu schwächen, Sanktionen zu verhängen“, sagt Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis. Auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärt, die Zunahme der Flüchtlingszahlen sei „politisch motiviert“. Die Spitzen der Europäische Union sind besorgt, der Schutz der eigentlich schon gut gesicherten Grenze wird verstärkt: Die Grenzschutztruppe Frontex wird 30 zusätzliche Beamte und Patrouillen-Fahrzeuge nach Litauen entsenden, vorsichtshalber erhält auch das benachbarte Lettland Verstärkung.

Lukaschenko hatte schon mit Flüchtlingsstrom gedroht

Erste Frontex-Kräfte auch aus Deutschland sind bereits seit Freitag im Einsatz. Von der Leyen hat Litauen auch Gelder aus einem Hilfsfonds zugesagt: „Ihre Sorgen und Probleme sind europäische Sorgen und Probleme“, versichert sie. EU-Parlamentspräsident David Sassoli äußerte sich ebenfalls „besorgt“ über die steigenden Flüchtlingszahlen. Ohne Lukaschenko beim Namen zu nennen, erklärt er: „Wieder spielt jemand mit dem Leben von Menschen“. Dies sei inakzeptabel.

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Der Verdacht kommt nicht von ungefähr: Lukaschenko hatte der EU selbst mit einem Flüchtlingsstrom gedroht als Antwort auf die vom Westen verhängten Sanktionen. Nach seiner Darstellung hatte Belarus bisher Flüchtlinge an einer Weiterreise in den Westen gehindert: „Wir haben normalerweise Migranten in Scharen geschnappt“, sagte Lukaschenko Ende Mai im Minsker Parlament. An die Adresse der Europäischen Union fügte er hinzu: „Jetzt vergesst das, ihr werdet sie selber fangen müssen.“

Flugzeuge aus Bagdad und Istanbul bringen die Migranten

Lukaschenko orientiert sich offenbar an ähnlichen Aktionen der Türkei oder zuletzt Marokkos, die aus politischen Gründen zeitweise die Grenzen für Asylbewerber in Richtung EU geöffnet hatten. Die EU ist im Konflikt mit Lukaschenko, nachdem er Ende Mai ein Passagierflugzeug auf dem Flug von Athen nach Vilnius zur Landung in der Hauptstadt Minsk zwingen ließ; der Oppositionelle Roman Protasewitsch und seine Freundin wurde dort aus dem Flugzeug geholt und festgenommen. Die EU hat als Reaktion den Luftraum für Flugzeuge aus Belarus gesperrt und gezielte Wirtschaftssanktionen und Sanktionen gegen einzelne Verantwortliche verhängt.

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Nach Angaben der litauischen Regierung sind allein im Juni 412 Migranten gekommen, sechsmal so viel wie im gesamten Jahr 2020 – für das kleine Land mit nur 2,7 Millionen Einwohnern eine ungewohnte Belastung. Die meisten Flüchtlinge stammen aus dem Irak, zunehmend aber auch aus Syrien, Gambia, Guinea und Indien. Die Regierung von Litauen sieht eine gezielte Strategie Lukaschenkos: Die Flüchtlinge würden in Flugzeugen aus der irakischen Hauptstadt Bagdad und dem türkischen Istanbul nach Belarus gebracht.

Allein aus Bagdad sind demnach innerhalb von 19 Tagen neun Flüge nach Minsk registriert worden, obwohl es normalerweise kaum Flugverbindungen gebe; aus Istanbul wurden im gleichen Zeitraum 63 Flüge registriert, deutlich mehr als üblich. Außenminister Landsbergis will deshalb auch in den Irak und die Türkei reisen in der Hoffnung, den Flüchtlingsstrom einzudämmen. Wenn die EU nicht zügig reagiere, dürften bald auch weitere EU-Länder – Polen und Lettland – betroffen sein, warnt Landsbergis: „Die Situation ist angespannt und kann sich weiter verschlechtern.“

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