Berlin. Seit Jahren stocken die Abschiebungen Tausender Ausländer. Nun soll die Bundespolizei per neuem Gesetz selbst Fälle prüfen können.

Anis Amri hat Angst. Er will weg, raus aus Deutschland. Zuvor hatte er einen heftigen Streit in einer Bar in Berlin-Neukölln, es geht um Drogengeschäfte, es gibt Verletzte. Amri ist damals noch kein Terrorist, erst einige Monate später rast er mit einem Lastwagen in den Berliner Weihnachtsmarkt. Doch die Behörden sehen Amri längst als gefährlichen Islamisten und Kriminellen.

In der Nacht zum 30. Juli 2016 holen ihn Bundespolizisten aus dem Flixbus 006, Amri war auf dem Weg nach Zürich, im Gepäck gefälschte italienische Pässe. In diesen Stunden laufen einige Telefonate, Bundespolizisten melden sich beim Landeskriminalamt, Beamte in Baden-Württemberg rufen in Berlin und Nordrhein-Westfalen an. Auch interessant: Debatte um den Spitzel im Amri-Umfeld

Die Ermittler wollen Amri nicht ausreisen lassen, zu gefährlich. Doch auch in Gewahrsam können sie ihn nicht halten. Für eine Abschiebung fehlen Papiere, eine Haft erlaubt ein Richter nicht. Der Ausländerbehörde fehlen Unterlagen für einen Pass, mit dem sie Amri nach Tunesien abschieben können.

Union und SPD drängen auf schnellere Abschiebungen

Der Fall ist extrem. Doch nach Ansicht von Innenpolitikern in Union und SPD belegt er die Folgen einer gescheiterten Abschiebepraxis. Nach Wunsch der Fraktionen von CDU, CSU und SPD soll die Bundespolizei nur mehr Befugnisse bekommen, um Ausländer ohne gültige Papiere abzuschieben.

Bundespolizisten im Einsatz bei einer Razzia gegen Schleuser in einer Berliner Wohnung.
Bundespolizisten im Einsatz bei einer Razzia gegen Schleuser in einer Berliner Wohnung. © dpa | Marc Müller

Treffe die Bundespolizei künftig auf „illegal aufhältige, vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer“, seien die Beamten nicht nur für die Strafverfolgung zuständig – sondern „in einfach gelagerten Fällen auch unmittelbar für deren Abschiebung“, sagt der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Mathias Middelberg, unserer Redaktion. Sofern die Ausländerbehörde eines Landes nicht widerspreche, hebt Middelberg hervor. Denn bisher ist ausschließlich die Ausländerbehörde für Abschiebungen verantwortlich.

CDU und CSU wollen damit auf die Bearbeitung „aus einer Hand“ setzen: Bundespolizisten, die Straftaten des illegalen Aufenthalts verfolgen – und zugleich Abschiebehaft anordnen, Pässe besorgen, die Abschiebeflüge organisieren.

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SPD-Politiker: „Deutschland muss bei Rückführungen besser werden“

Auch die SPD ist von dem Vorstoß angetan. „Deutschland muss besser werden bei Rückführungen von abgelehnten Asylbewerbern“, sagte Fraktionsvize Dirk Wiese unserer Redaktion. Die neuen Befugnisse der Bundespolizei seien ein wichtiger Schritt.

Seit Jahren will die Bundesregierung mehr Menschen und vor allem schneller abschieben. Seit Jahren scheitert sie mit dem Vorhaben. Schon vor Corona ging die Zahl der Abschiebungen zurück, mit der Pandemie brachen sie ein. Auch freiwillig reisten zuletzt weniger ausreisepflichtige Ausländer aus.

Offiziell müssen gut 280.000 Menschen Deutschland verlassen. Sie haben kein Asyl bekommen oder das Visum, etwa bei Studenten, ist ausgelaufen. Der große Teil, gut 240.000 Personen, besitzt eine Duldung. Ihre Abschiebung ist ausgesetzt, weil sie krank sind, in ihrer Heimat verfolgt werden oder ihr Asylverfahren noch läuft. Reportage: So dramatisch ist die Lage der Flüchtlinge von Calais

Häufig scheitern Abschiebungen an fehlenden Papieren aus dem Heimatland

Ein weiteres Hindernis für eine Abschiebung: fehlende Passersatzpapiere aus dem Heimatland. So war es auch im Fall des Islamisten Amri. Wochenlang bemühten sich deutsche Behörden um einen Pass aus Tunesien.

„Gerade wo allein fehlende Reisedokumente der Abschiebung entgegenstehen, ist die Bundespolizei mit ihren weltweiten Kontakten der richtige Akteur für die Durchsetzung der Ausreisepflicht“, so CDU-Politiker Middelberg.

Nun soll die Bundespolizei helfen – dabei war es genau die aktuelle Bundesregierung, die zu Beginn ihrer Regierungszeit die Aufgabe der Passersatzbeschaffung auf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) per „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ übertragen hatte – weg von der Zuständigkeit der Bundespolizei.

Weil offenbar auch das Bamf aus Sicht der Regierungsfraktionen nicht entscheidend die Zahl der Abschiebungen voranbringt, soll nun wieder die Bundespolizei stärker eingreifen.

Mehr Befugnisse auch bei Überwachungen von verschlüsselter Kommunikation

Noch diese Woche wollen Union und SPD mit einem Gesetz die neuen Kompetenzen im Bundestag beschließen. Dabei ist eine Reform der Rechtsgrundlage der Arbeit der Bundespolizei längst überfällig – vieles stammt noch aus Regelungen der 1990er-Jahren.

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Doch hatten Union und SPD lange um ein neues Polizeigesetz gerungen, erst Innenministerium und Justizministerium. Als dort keine Einigung möglich war, ergriffen die Fraktionen von CDU und SPD die Initiative. Bis zuletzt wurde gefeilt, gestrichen, ergänzt.

dpatopbilder - 31.05.2021, Berlin: Bundespolizisten gehen bei einer Razzia gegen Schleuser in eine Wohnung. Bei einer großangelegten Razzia gingen Bundespolizisten in mehreren Bundesländern gegen Schleuserkriminalität vor. (Zu dpa
dpatopbilder - 31.05.2021, Berlin: Bundespolizisten gehen bei einer Razzia gegen Schleuser in eine Wohnung. Bei einer großangelegten Razzia gingen Bundespolizisten in mehreren Bundesländern gegen Schleuserkriminalität vor. (Zu dpa "Bundesweite Razzien gegen organisierte Schleuserkriminalität") Foto: Paul Zinken/dpa-Zentralbild/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ © dpa | Paul Zinken

Bereits vor einigen Monaten war klar: die umstrittene biometrische Gesichtserkennung durch Kameras etwa an Bahnhöfen wird nicht kommen. Befugnisse bei der Überwachung von verschlüsselten Messengerdiensten oder IP-Telefonie wie WhatsApp und Skype soll die Bundespolizei mit dem neuen Gesetz bekommen. Auch das war bis zuletzt umstritten, offenbar vor allem innerhalb der Fraktionsspitze der SPD.

Künftig dürfen Bundespolizisten laufende verschlüsselte Kommunikation von Schwerkriminellen in Einzelfällen abhören, sofern es etwa um gravierende Delikte wie schwere Schleuserkriminalität geht und ein Richter dies genehmigt.

Ein Recht auf Online-Durchsuchungen wird es für die Bundespolizei nicht geben

Eine Online-Durchsuchung, wie es dem Bundeskriminalamt bei bestimmten Delikten möglich ist, bleibt für die Bundespolizei tabu. „27 Jahre nach der letzten großen Novelle ist es dringend notwendig, die Befugnisse der Bundespolizei auf den aktuellen Stand zu bringen“, sagt CDU-Innenexperte Middelberg.

Von der Opposition gibt es deutliche Kritik an dem Gesetzentwurf. Dieser sei „bestenfalls Stückwerk“, so FDP-Innenexperte Benjamin Strasser gegenüber unserer Redaktion. Dabei seien die Aufgaben der Bundespolizei groß. „Wir brauchen eine echte Digitalisierungsoffensive mit einer technischen Ausstattung, die dem 21. Jahrhundert entspricht“, sagte Strasser.

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Mit einem eigenen Antrag im Bundestag will die FDP für eine Reform der Bundespolizei werben. Darin wendet sich die liberale Partei jedoch gegen die neuen geplanten Überwachungsbefugnisse. „Es bestehen zusätzlich große Zweifel daran, ob die Quellen-Telekommunikationsüberwachung aufgrund des hohen Zeitbedarfs, beispielsweise für die Aufspielung auf ein zu überwachendes Gerät, ein geeignetes Instrument der Gefahrenabwehr sein kann“, heißt es in dem Vorstoß.

Innerhalb der Polizei und unter Fachleuten ist jedoch vor allem die geplante Offensive bei den Abschiebungen durch Bundespolizisten umstritten. „Es ist fatal, dass die Bundespolizei in Konkurrenz zu den Experten der Ausländerbehörden und des Bamf zu einer Art Ersatz-Abschiebebehörde ausgebaut werden soll“, sagte Sven Hüber unserer Redaktion. Hüber ist stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in der Bundespolizei.

Polizei-Gewerkschaft kritisiert die neuen Aufgaben der Beamten

Die Beamtinnen und Beamten hätten weder „die asylrechtliche Kenntnis noch die Kapazitäten für eine Überprüfung bestehender Duldungen“, so Hüber. Wenn Bundespolizisten nun Fälle von ausreisepflichtigen Ausländern mit und ohne Duldung prüfen sollen, dann koste das viel Zeit.

„Erst müssen die Beamten die zuständige Ausländerbehörde erreichen, dann müssen die Akten von dort geliefert werden, dann muss diese Akte geprüft werden von Polizisten, die sonst Kriminelle aufspüren sollen und für Sicherheit sorgen.“

Sieht die Ausländerbehörden als zentrale Stelle für Rückführungen: Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD)
Sieht die Ausländerbehörden als zentrale Stelle für Rückführungen: Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) © dpa | Britta Pedersen

Nicht nur aus Teilen der Behörde selbst kommt Kritik an einer „Abschiebebehörde Bundespolizei“. Auch aus einzelnen Bundesländern. So heißt es in einem Schreiben von Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius an die Polizeigewerkschaft, dass nicht nur rechtlich heikel sei, der Bundespolizei Aufgaben der Ausländerbehörde zu übertragen. Auch die Abschiebepraxis im neuen Alltag der Polizistinnen und Polizisten werfe Fragen auf: Wer buche künftig Abschiebeflüge? Was passiert mit den Familien der abgeschobenen Ausländer?

Manche Länder üben Kritik, andere sind froh über Hilfe aus dem Bund

Auch die Innenministerien in Berlin und Baden-Württemberg äußerten zuletzt Kritik an dem Vorhaben der Regierungsparteien. Die Fraktionen im Bundestag haben auf diesen Widerstand von einzelnen Landesregierungen und der Gewerkschaft reagiert. Die Bundespolizisten müssen sich nun in jedem Fall mit den lokalen Ausländerbehörden absprechen.

Und: Andere Bundesländer, gerade die kleineren, zeigten sich in der Vergangenheit immer offen für Hilfe von Bundesbehörden bei der Abschiebepolitik. Komplizierte Fälle, sei es rechtlich oder organisatorisch, werden dort gerne an die Bundespolizei abgegeben.

Bleibt noch Zeit, um legale Chancen für einen Aufenthalt zu prüfen?

Die Bundespolizei setzt auf ihre vielen Tausend Beamtinnen und Beamten. Sie zählt bei der Organisation von Abschiebungen auf ihre Kontaktleute im Ausland. Und Bundespolizisten sehen ohnehin die Erfahrungen in Einsatzlagen als Vorteil im Abschiebealltag: Beamte sind es gewohnt, schnell zu handeln, Pläne nach „Lagen“ zu ändern und auch Personen schnell zu überprüfen.

Auf Seiten der abgelehnten Geflüchteten und Migranten bleibt nach Angaben von Hilfsorganisationen wie Pro Asyl vor allem eine Sorge: Eine Behörde mit mehreren Zehntausend Polizistinnen und Polizisten forciert im Ringen um schnellere Abschiebungen nun die Kontrollen an Bahnhöfen, in Grenzregionen und Flughäfen.

Für die Chancen, einen Aufenthalt in Deutschland auf legale Basis zu stellen, sehen die Kritiker des neuen Polizeigesetzes wenig Platz. Doch genau darum würden sich Ausländerbehörden bemühen: einen Weg aus der Illegalität – hinzu einem Arbeitsplatz in Deutschland.