Berlin. Der Bundespräsident sprach mit Betroffenen und Beratern über Hilfe bei sexueller Gewalt in der Kindheit. Es war kein leichter Tag.

Es war sicher kein leichter Besuch. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte sich Zeit genommen am Freitagmorgen. Er sprach mit Betroffenen von Missbrauch und sexueller Gewalt über ihre Bedürfnisse und ihre Erfahrungen. In den Räumen von Wildwasser Berlin, einer Anlaufstelle für Mädchen und Frauen, hörte er zu und fragte, welche Hilfe Betroffene dringend brauchen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Später tauschte er sich mit drei Fachleuten über Prävention, Hilfe und Interventionsmöglichkeiten aus. „Ich mache das nicht jeden Tag“, sagte Steinmeier als Einstieg in das Gespräch mit den Vertretern der Beratungen, „ich muss mich ein bisschen fassen.“ Die Geschichten seien „nur schwer zu ertragen“, daher danke er denjenigen, die sich ihm so geöffnet hätten – und sein Respekt gelte den Fachberatern, die sich dafür einsetzen, Missbrauchsopfern zurück ins Leben zu helfen.

Sexueller Missbrauch: 12.000 Fälle werden pro Jahr angezeigt

Jährlich werden etwa 12.000 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch angezeigt, die Bundeskriminalstatistik bildet aber nur das Hellfeld ab, Experten schätzen das Dunkelfeld viel höher ein, weil die meisten Taten nie zur Anzeige gebracht würden. Was auch daran liegen mag, dass sexualisierte Gewalt in den meisten Fällen im nahen Umfeld des Kindes stattfindet und die Täter und Täterinnen dem Opfer bekannt sind. Die World Health Organization schätzt, dass 18 Millionen Kinder und Jugendliche in Europa von sexueller Gewalt betroffen sind. Auf Deutschland gerechnet wären das ein bis zwei Kinder pro Schulklasse. Lesen Sie auch: Studie: Wie Pädosexuelle Kindesmissbrauch etablieren wollten

Wie sich während der Corona-Pandemie die Fallzahlen entwickelt haben, können die Fachstellen noch nicht abschätzen, doch warnten viele Anlaufstellen schon vor Monaten, dass die Kinder im Lockdown kaum eine Möglichkeit hätten, einer solchen Situation in ihrem Zuhause zu entkommen, und die Fremdmelder (Lehrer, Kita-Betreuer, Trainer, Freunde), die normalerweise etwa 60 Prozent der Fälle melden, die Kinder kaum gesehen und erlebt hätten.

Beratungsstellen bei sexuellem Missbrauch: „Chronisch unterfinanziert“

Im Gespräch mit dem Bundespräsidenten äußerten sich die Berater besorgt: „Enorm viele unserer Fachberatungsstellen sind chronisch unterfinanziert“, sagte Katrin Schwedes von der BKSF, der Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung, die rund 360 Initiativen in Deutschland vertritt. Das hat zur Folge, dass die Mitarbeiter nicht angemessen bezahlt werden können, in ländlichen Regionen Betroffene oft keine Anlaufstellen in ihrer Nähe finden und dass auch nicht genug Prävention an Schulen stattfinden kann.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht die Beratungsstelle Wildwasser e.V.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht die Beratungsstelle Wildwasser e.V. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Schwedes kritisierte: „Bislang fehlt häufig der politische Wille in den Ländern und Kommunen, diese Arbeit wirklich wichtig zu machen.“ Schwedes und ihre Mitstreiter hoffen, dass der Besuch des Bundespräsidenten ein Signal in die richtige Richtung setze.

Bundespräsident: „Jeder kennt jemanden, der Missbrauch erlebt hat“

Der Bundespräsident, der gerade erst erklärt hatte, er stünde für eine zweite Bundespräsidentschaft bereit, bekräftigte im Gespräch die Wichtigkeit der Fachstellen in den Bereichen wie Fürsorge, Seelsorge, psychische Gesundheit, Intervention und Prävention. „Nicht jeder hat selbst Missbrauch erfahren, aber jeder kennt in seinem Umfeld jemanden, der das erlebt hat. Oft belastet der Missbrauch die Betroffenen ein Leben lang“, sagte Steinmeier.

Irina Stolz von Wildwasser Berlin, einer der ersten Beratungsstellen Deutschlands, die von Betroffenen für Betroffene von sexueller Gewalt in den 80er-Jahren gegründet wurde, sagte, dass Betroffene immer noch zu wenig gesellschaftliche Solidarität erfahren. „Ihnen wird nicht geglaubt, oder sie werden auf ihren Opferstatus reduziert.“ Der Bundespräsident versprach am Schluss: „Wir müssen die Opfer in den Mittelpunkt stellen.“