Berlin. Sie haben das KZ-Auschwitz überlebt und sehen nun wieder extremen Antisemitismus in Deutschland. Holocaust-Überlebende sind in Sorge.

Brennende Israel-Flaggen, verbaler Judenhass, durchgestrichene Davidsterne auf Plakaten: Die Bilder von den antisemitischen Hass-Demonstrationen haben auch die Überlebenden des Holocaust große Besorgnis ausgelöst. In vielen Städten Deutschlands und Europas wie Berlin, Hamburg, Düsseldorf, Paris und London gab es Protestkundgebungen zu den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas, die ihre Raketen von den palästinensischen Gebieten aus in Richtung Tel Aviv schickte.

Für die Überlebenden des Holocaust seien die aktuellen antisemitischen Proteste „eine schwere Last“, sagt Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, unserer Redaktion. „Israel ist für die Überlebenden immer eine Hoffnung gewesen, ein Staat, der ihnen Schutz gibt, der für sie immer ein sicherer Hafen ist.“ Der Hass auf die Juden und den Staat Israel sei daher kaum zu ertragen, so Heubner.

Israel und die Hamas: So entstand der Nahostkonflikt

Während des antisemitischen Terrors in Europa unter der deutschen Nazi-Herrschaft wurde Palästina ab 1933 einer der wichtigsten Zufluchtsorte, um der Verfolgung zu entkommen. Auch aus arabischen Staaten, die mit dem NS-Regime sympathisieren, flohen Juden vor Pogromen in das ehemals britische Mandatsgebiet am Mittelmeer. Nach dem Zweiten Weltkrieg riefen die Vereinten Nationen zur Teilung der Region in einen jüdischen und einen muslimisch geprägten arabischen Staat auf. Die Juden stimmten zu, die Araber lehnten den Plan ab. Immer wieder kam es seit der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948 zu Kriegen und militärischen Auseinandersetzungen.

Die Überlebenden hätten immer gehofft, dass es für Israelis und Palästinensern ein friedliches Leben gebe. Auch für sie sei der Nahost-Konflikt eine schwierige Situation. „Aber die Kritik, die auch die Existenz des Staates Israel negiert, trifft die Überlebenden hart“, sagte Heubner vom Auschwitz-Komitee.

Hetze gegen Juden und Israelis: Holocaust-Überlebende fordern Strafverfolgung

Der Protest in den deutschen Innenstädten in der vergangenen Woche war mehr als Kritik an der Regierung des Staates Israels und kippte in Hetze gegen und Hass auf Juden. Wegen antisemitischer Straftaten im Zuge der propalästinensischen und antiisraelischen Proteste wird gegen mehrere Hundert Tatverdächtige deutschlandweit ermittelt, bei denen es sich in erster Linie um Menschen mit arabischen Wurzeln handelt. Die Überlebenden hoffen laut Heubner auf eine konsequente Strafverfolgung der Täter.

Auf einer Demonstration in Berlin verbrennen die Teilnehmer eine Fahne mit einem Davidstern.
Auf einer Demonstration in Berlin verbrennen die Teilnehmer eine Fahne mit einem Davidstern. © dpa

Der CDU-Vorsitzende und nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet hat als Reaktion sogar ein Verbot der Flagge der radikalislamischen Hamas in Deutschland gefordert. Die Hamas-Flagge stehe „für Terror“ und dürfe auf deutschen Straßen nicht gezeigt werden. Er betonte im nordrhein-westfälischen Landtag, dass Antisemitismus in Deutschland unterschiedliche Wurzeln habe. Aber sagte auch: „Judenhass ist auch eingewandert.“

Dennoch sei es falsch, Antisemitismus zum „Migrationsproblem“ zu machen, als hätte es vorher keinen Antisemitismus in Deutschland gegeben. „Seit der Befreiung von Auschwitz, seit dem 27. Januar 1945 gibt es immer noch Antisemitismus“, sagte Laschet. „Strukturell, latent, verdeckt - er war in Deutschland immer da.“

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Die Aggression der Hamas wirkt auch über Israel hinaus

Zugleich äußerten Organisatoren des „Solidaritätsbündnisses Israel“, die Sorge vor einer Zunahme des Antisemitismus in Deutschland wegen der jüngsten Ereignisse im Nahen Osten. „Die Sicherheitslage für israelische und jüdische Menschen und Einrichtungen hat sich dadurch erneut verschlechtert“, erklärten sie auf ihrer Webseite www.werteinitiative.de. Die „Aggression der Hamas“ wirke auch über Israel hinaus.

Doch die Bilder von den Protesten würden noch mehr offenbaren. Sie zeigen auch, dass in der deutschen Gesellschaft etwas ins Rutschen gekommen sei, so Heubner vom Auschwitz-Komitee. „Jede antisemitische Protestattacke, jede angezündete Israelflagge, jeder durchgestrichene Judenstern, jeder zerstörte Stolperstein, bestätigt das.“ Und dass die, die diese Taten begingen, auf stillschweigende Zustimmung für ihren Judenhass hoffen.

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So zerstört Antisemitismus die ganze Gesellschaft

Jahrzehntelang habe in der deutschen Gesellschaft ein Konsens darüber bestanden, dass Antisemitismus zu ächten ist. „Viele der Überlebenden bezweifeln aber, dass das heute noch so ist.“ Die Bilder wecken bei den Überlebenden Erinnerungen an die Anfänge des Nationalsozialismus, damals breitete sich der Antisemitismus erst langsam aus und wurde so gesellschaftlich akzeptierter. Dabei richtet sich Antisemitismus nicht nur gegen Juden, sondern zerstöre die ganze Gesellschaft.

Christoph Heubner (links) im August 2017 in der Gedenkstätte Auschwitz mit den Holocaust-Überlebenden (v.l.) Roman Kent, Marian Turski, Felix Kolmer, Esther Bejarano (verdeckt) und Eva Fahidi.
Christoph Heubner (links) im August 2017 in der Gedenkstätte Auschwitz mit den Holocaust-Überlebenden (v.l.) Roman Kent, Marian Turski, Felix Kolmer, Esther Bejarano (verdeckt) und Eva Fahidi. © Privat | Privat

Erinnerung der Holocaust-Überlebenden: „Durch die Knochen bis ins Herz“

Christoph Heubner kennt viele inzwischen hochbetagte Überlebenden des Holocaust persönlich, hat sie bei Besuchen in Deutschland begleitet, zu Vorträgen in Schulklassen und Universitäten, hat Gespräche mit Journalisten organisiert, ist mit ihnen nach Auschwitz gereist. In seinem neuen Buch „Durch die Knochen bis ins Herz“ erzählt er von diesen Gesprächen und Erinnerungen der Holocaust-Überlebenden.

Das Buch sei ein Versuch, dabei mitzuhelfen, dass ihre Stimmen nicht verloren gehen. „Dass die Namen der Menschen und das, was sie erlitten haben, bleiben.“ Und weil sich in der Gesellschaft heute wieder Phänomene zeigen wie Ausgrenzung, Verachtung und Demütigung, Phänomene, die die Überlebenden des Holocaust in ihren Anfängen genauso schon einmal erlebt haben.

Viele der Juden aus ganz Europa hätten sich während ihrer Gefangenschaft im deutschen Konzentrationslager in Auschwitz mit Gedichten geholfen, zu überleben und sich zu trösten. Die Erklärung dafür von Überlebenden wie Eva Fahidi, Noah Klieger oder Esther Bejarano sei immer ähnlich gewesen. „In etwa so“, sagt Heubner: „Ich bin ein Mensch, ich kann ein Gedicht auswendig, und bin nicht das Stück Scheiße, dass man mich glauben machen will.“

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