Essen. Wenige Tage vor der Bundestagswahl zieht Schriftsteller Sten Nadolny Bilanz über sein Steinmeier-Blog: Er spricht über alte Dummheiten, erklärt, warum die Grass-Masche bei ihm nicht ziehen würde, und klärt, ob Frank-Walter Steinmeier seine menschenfreundliche Langsamkeit entdeckt hat.

Wie würden wohl die ersten 100 Tage aussehen, in denen Frank-Walter Steinmeier Bundeskanzler wäre? Wenn er denn gewählt würde... Schriftsteller Sten Nadolny (67) und sein Kollege Tilman Spengler haben einen tiefen Blick in ihre ganz eigene, ironisch-witzige Glaskugel geworfen. In ihrem Steinmeier-Blog schreiben sie gemeinsam mit anderen Gastautoren über ihre Zukunftsvisionen. Wenige Tage vor der Bundestagswahl zieht Initiator Sten Nadolny nun Bilanz.

Herr Nadolny, Sie waren drei Jahre lang Mitglied in der SPD. 1968 sind Sie ausgetreten. Warum unterstützen Sie jetzt Frank-Walter Steinmeier im Wahlkampf?

Sten Nadolny: 1968 ist natürlich sehr lange her und meine damaligen Dummheiten auch. Ich hatte das Gefühl, die SPD ist nicht links genug, damals war ich sowieso anderer Meinung als alle Vernunft. Warum ich dann nicht wieder eingetreten bin, als die Vernunft zurück kehrte, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Ich wurde eigenbrötlerischer und verbiss mich in mein Studium.

Frank-Walter Steinmeier habe ich zunächst kennengelernt bei einer Reise, zu der er mich eingeladen hat, ich fand ihn sympathisch. Dann hab ich mich darum gekümmert, was dieser sympathische Herr so alles macht und wofür er steht, und hab das Regierungsprogramm der SPD gelesen. Den vollen Ausschlag hat der Deutschlandplan gegeben, die „Arbeit von morgen“. Seitdem war ich entschlossen, etwas zu machen. Ich fand, dass die SPD im Gegensatz zu den anderen Parteien sorgenvoll in die Zukunft schaut und sich fragt: Was können wir denn machen?

Günter Grass sang 1965 das „Loblied auf Willy“, also auf Willy Brandt. Treten Sie mit Ihrem Blog bewusst in seine Fußstapfen?

Nadolny: Nein. Ein Blog zu machen ist ja etwas ganz Anderes, als vor große Säle zu treten und ein massenhaftes Publikum rhetorisch zu unterhalten. Das liegt mir nicht. Ich wollte gemeinsam mit Tillmann Spengler etwas machen, was nah dran ist an dem, was wir sowieso machen und können. Zu irgendwelchen großen Auftretern würden wir jetzt nicht werden, wenn wir auf die Grass-Masche zurück kämen.

Also keine großen Auftritte. Aber wie viele Nutzer bekommen denn dann überhaupt etwas mit? Haben Sie Klickzahlen?

Nadolny: Nein, aber ich muss mal wieder unserem Web-Master auf die Füße treten, damit er mir Zahlen sagt. Aber ich bekomme positive Rückmeldungen per Telefon. Gerade diese Intellektuellen, diese Büchermenschen, zu denen wir ja auch gehören, scheinen wenig dazu zu bewegen zu sein, auch mal einen Kommentar unter einen Beitrag zu schreiben.

In einer Ihrer Zukunftsvisionen hat Steinmeier am 21. Januar 2010 bereits dafür gesorgt, dass von den angekündigten vier Millionen neuen Arbeitsplätzen ein knappes Drittel „frisch und munter existieren“. Glauben Sie selbst an diese Vision?

Nadolny: (lacht) Keine Spur. Die Fabulier-Lust geht mit einem durch, wenn man sich von vornherein zum Ziel gesetzt hat: Wir machen jetzt etwas Irreales, wir stellen jetzt einfach Behauptungen hin, ohne dass sie abgesichert sind durch Prognostik, Glaskugel oder Kaffeesatz. Wir betreiben skrupelloses Wunschdenken, insgesamt kann man dabei mal über die Stränge schlagen.

Was bringt es, dieses Wunschdenken zu äußern?

Nadolny: Um mit dem Unwichtigen anzufangen: Es bringt viel Spaß. Man lässt sich etwas einfallen, freut sich, und vor allem, wenn es mit etwas Spaß verbunden ist, freuen sich andere auch. Ich bin tatsächlich etwas im Zweifel, ob das für den Wahlkampf der SPD etwas bringt. Aber es ist eine Gedankenmühle, die anregen kann oder auch mal an Themen wie den Klimawandel oder Kulturpolitik erinnern kann.

In einem Blogbeitrag legen Sie Guido Westerwelle ein Zitat in den Mund. Er sagt über Steinmeier: „Er ist so liberal wie möglich, und so sozialdemokratisch wie unmöglich.“ Wie ist Steinmeier denn in Ihren Augen?

Nadolny: Dieses Bonmot ist natürlich dem Westerwelle in den Mund gelegt und deswegen sehr westerwellisch. Ich kann das nicht so unterstreichen. Steinmeier ist so sozialdemokratisch, wie das vernünftig und richtig ist. Das heißt, er ist kein Radikalinski. Er ist ein bedächtiger, vernünftiger, liberaler Sozialdemokrat.

In den Kommentaren unter Ihren Beiträgen wird bemängelt, Sie lieferten keine Gründe, warum Steinmeier ein guter Kanzler wäre. Warum machen Sie das nicht in direkter Form?

Nadolny: Das würde uns zu Lautsprechern machen. Es gibt diese Bekenner-Blogs, die argumentative, analytische Gründe liefern. Das ist aber leider furchtbar langweilig. Wir wollen konjunktivisch vorgehen und uns ausmalen: Wie wäre es denn, wenn... Leichte Krimi-Elemente und vor allem ironische.

Steinmeier glänzt bei öffentlichen Auftritten nicht gerade mit Charme und Witz. Hat er vielleicht die von Ihnen beschriebene menschenfreundliche Langsamkeit gefunden?

Nadolny: Ein bisschen Wahres ist dran. Ich sehe ein paar Eigenschaften John Franklin [dem Seefahrer in „Die Entdeckung der Langsamkeit“] in Steinmeier. Bedächtigkeit, Beharrlichkeit, der ungeheure Fleiß und das Uneitle, was ihn natürlich nicht zu einem furchtbar charismatischen Auftritts-Genie macht. Aber langweilig ist er überhaupt nicht. Er dröhnt nur nicht. Wenn er dröhnt, dann fällt er damit unangenehm auf, weil es nicht zu ihm passt. Das hat gewisse Ähnlichkeit mit der Langsamkeit, die ich meine: Nicht dröge, sondern bescheidendes, zähes, kluges Weitermachen.

Was sagt der SPD-Kanzlerkandidat zu Ihrem Blog?

Nadolny: Ich stehe nicht dauernd in Kontakt mit Herrn Steinmeier. Ich erfahre das eher aus zweiter Quelle. Aber wir sind uns auch begegnet in München, im Biergarten – und da hat er zu erkennen gegeben, dass er das gerne liest, dass er immer mal wieder nachguckt. Er fühlt sich persönlich gut unterhalten, glaube ich.

Wird Frank-Walter Steinmeier Kanzler?

Nadolny: Ich sehe eigentlich keinen Grund, warum er jetzt gar nicht mehr Kanzler werden könnte. Ich sehe da keine Unmöglichkeit. Aber ich lasse diese Frage hoffnungsvoll offen.

Das Interview führte Vera Kämper.

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