Berlin. Noch gibt es mehr Impfwillige als Impfstoff. In Impfzentren und Praxen müssen Ärzte immer öfter aggressive Forderungen zurückweisen.

Ganz am Anfang war es noch einfach: Menschen über 80 Jahre, Altenpfleger und das Personal auf den Covid-Stationen – sie wurden als Erste geimpft. Doch seit die Impfkampagne voranschreitet, ist nicht mehr auf den ersten Blick sichtbar, warum der eine jetzt schon an der Reihe ist, während der andere noch warten muss. Es ist die Stunde der Vordrängler: Viele Impfzentren beobachten eine Zunahme von Betrugsversuchen, Ärztevertreter warnen vor wachsenden Spannungen durch aggressive Impfdrängler.

„Der Druck auf die Impfzentren und die Arztpraxen wächst. Die Impfdrängler werden fordernder“, sagte die Vizevorsitzende des Deutschen Hausärzteverbands, Anke Richter-Scheer, unserer Redaktion. „Wir erleben jeden Tag Diskussionen mit Leuten, die jetzt unbedingt schnell geimpft werden wollen, obwohl sie noch nicht an der Reihe sind. Die Stimmung wird aggressiv.“

Impfdrängler wollen von mehr Rechten für Geimpfte profitieren

Das liege vor allem an zwei Dingen: Eine Ursache sei, dass die Impfpriorisierung immer weiter ausgeweitet werde, sodass es für viele immer weniger nachvollziehbar sei, warum der eine schneller an der Reihe sein solle als der andere. „Hinzu kommt, dass viele jetzt ihre Zweitimpfung vorziehen wollen, um so schnell wie möglich von den Rechten für Geimpfte zu profitieren oder sorglos in den Urlaub fahren zu können“, so Richter-Scheer.

Seit dem Wochenende gelten für vollständig Geimpfte die gleichen Lockerungen wie für Getestete, zudem müssen sie sich nicht mehr an Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren halten und können demnächst ins Ausland reisen, ohne dass sie anschließend zu Hause in Quarantäne müssen.

Astrazeneca: Viele Ältere lehnen Impfung ab

In den Arztpraxen, sagt Richter-Scheer, komme der Ärger mit älteren Patienten dazu, die für eine Impfung mit Astrazeneca vorgesehen sind, aber unbedingt einen anderen Impfstoff haben wollten. „Es gibt nachgiebige Kollegen, die sich jedes Mal auf eine Diskussion einlassen. Besser wäre es, gleich klarzustellen: Wer von seinem Arzt eine Impfung mit Astrazeneca angeboten bekommt, sie aber ablehnt und einen anderen Impfstoff bevorzugt, muss mit längeren Wartezeiten rechnen.“

Er müsse dann warten, bis es möglicherweise im Sommer so viel Impfstoff von anderen Herstellern gebe, dass die Leute wählen könnten. Viele lehnen das Vakzin nach Berichten über sehr seltene Hirnvenenthrombosen ab.

Astrazeneca- Für diese Personen gilt der Warnhinweis

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    Angesichts der wachsenden Zahl von Betrugsversuchen, bei denen sich Impfwillige mit falschen Angaben eine vorzeitige Impfung verschaffen wollen, wird der Ruf nach Strafen laut. Zwar würden Tausende erwischt, Sanktionen aber fehlten, kritisiert die Deutsche Stiftung Patientenschutz. Sich beim Impfen vorzudrängen sei weiterhin keine Ordnungswidrigkeit.

    Impfbetrüger machen falsche Angaben bei Alter und Beruf

    Viele Impfzentren klagen mittlerweile über das Phänomen; das ARD-Politikmagazin „Report Mainz“ berichtete jetzt von mehreren Tausend Fällen. Einzelne Impfzentrum meldeten mehr als 100 Vordrängler pro Woche.

    Um vorzeitig an einen Impftermin zu kommen, würden etwa falsche Alters- oder Berufsangaben gemacht. In München würden bis zu 350 Vordrängler in der Woche erwischt, in Saarbrücken bis zu 140. Viele Impfbetrüger geben sich demnach oft als höher priorisierte Kontaktpersonen von Pflegebedürftigen oder Schwangeren aus. Sie nutzen die Regelung aus, nach der eine pflegebedürftige Person zwei Kontaktpersonen benennen kann, die vorrangig geimpft werden sollen.

    Die FDP-Gesundheitsexpertin Christine Aschenberg-Dugnus bezeichnete das vorzeitige Erschleichen von Impfungen als zutiefst unanständig: „Die Ungeduld der Menschen ist zwar verständlich, entschuldigt aber nicht die Anwendung von Tricks“, erklärte sie. Der Ruf nach einer stärkeren Sanktionierung von Impfvordränglern sei nachvollziehbar.

    Corona-Impfung: Zwei Drittel der über 60-Jährigen sind geimpft

    In Deutschland ist mittlerweile rund ein Drittel der Bevölkerung gegen das Coronavirus geimpft. Bei Menschen über 60 seien es bereits zwei Drittel, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Dienstag. Spahn bekräftigte die Absicht, die Priorisierung für die Impfstoffe im Juni aufzuheben. „Wir können aber nicht alle an den ersten drei Tage impfen, es wird schon auch bis in den Juli hineingehen“, so der Minister. Zumal erwartet wird, dass im Frühsommer auch Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren mit dem Vakzin von Biontech geimpft werden können.

    Damit dürfte sich der Druck auf die Arztpraxen erneut erhöhen: Viele Eltern werden bemüht sein, ihre Kinder so rechtzeitig zweifach zu impfen, dass sie geschützt sind, wenn die Schule wieder beginnt. Nicht ohne Grund beginnen viele Kinderarztpraxen bereits jetzt, Wartelisten anzulegen – für den Moment, da die Welle der impfwilligen Teenager über sie hereinbricht.