Berlin. Querdenker und andere Corona-Gegner leugnen den Schutz der Impfung. Doch längst geht es manchen um mehr: den Kampf gegen die Demokratie.
Ende März organisiert Gerhard Luithle wieder einen seiner Autokorso durch das baden-württembergische Ludwigsburg. Seit Februar ruft er im Internet dazu auf, anfangs folgten ihm fast 300 Fahrzeuge. An diesem Tag ist Luithles Motto: „Den weltweiten Völkermord mit der Giftspritze stoppen!!!“. Laut Polizei sind noch gut 40 Fahrzeuge dabei.
Der Mann hinter dem Autokorso ist Organisator der sogenannten „Querdenken“-Demonstrationen in Ludwigsburg. Anfangs richtet er sich gegen „Lockdown und die weiche Impfpflicht“, bald schon warnt er vor der „Diktatur“, und meint offensichtlich das heutige Deutschland. Nun also drohe der „Völkermord“ durch die Corona-Schutzimpfung, die mittlerweile viele Millionen Menschen in Deutschland erhalten haben.
Querdenker haben eine Strategie: Sie gründen „Filialen“ in vielen Städten
Nicht nur in Ludwigsburg – derzeit gehen in vielen deutschen Städten wie am 1. Mai in Berlin immer wieder „Querdenker“ und andere Gegner der Corona-Politik der Regierung auf die Straße. In Stuttgart gründete ein Kreis um Michael Ballweg die Protestbewegung, sie hat im vergangenen Jahr „Filialen“ in Dutzenden Städten, Hamburg, Berlin, Essen aufgebaut.
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Unsere Redaktion hat mit Fachleuten, Verfassungsschützern, aber auch „Querdenkern“ selbst gesprochen. Unter ihnen Heilpraktikerinnen, Anwälte, selbsternannte „Experten“. Unter ihnen Verschwörungsideologen und Esoteriker.
Die Anhänger der Bewegung zeigen sich misstrauisch gegenüber dem Krisenmanagement des Staates und der Forschung. Manche Gesprächspartner sehen sich fast panisch in die Enge getrieben durch die Maßnahmen der Corona-Politik, andere wähnen sich im „Widerstand gegen das System“. Einige sorgen sich vor den wenig erforschten Impfungen, und finden sich auf Demos der „Querdenker“ wieder, andere nutzen offensiv den Schulterschluss mit radikal Rechten.
Angst vor Impfungen, radikale Kritik an staatlichen Impfkampagnen bis hin zu Verschwörungen – all das hat es schon immer gegeben. 1874 protestierten Menschen in Deutschland gegen das „Reichsimpfgesetz“. Wie heute waren schon im 19. Jahrhundert Städte wie Stuttgart und Leipzig Zentren der Bewegung.
"Querdenker" schwenken von Masken- auf Impfproteste um
Schon vor Corona waren Schutzimpfungen für einen Teil der Bevölkerung ein polarisierendes Thema, unter Eltern von Kindern im Kita-Alter gingen die Meinungen zu Masern-Impfungen zum Teil weit auseinander.
Doch mit der Corona-Pandemie protestierten radikale Impfgegner gemeinsam mit Tausenden Querdenkern regelmäßig auf deutschen Straßen, gewinnen an Macht und Einfluss, verfügen laut Sicherheitsbehörden über immense Einnahmen durch Spenden und den Vertrieb von Szene-Büchern bis hin zu „Querdenken“-Fan-T-Shirts.
Impfgegner der Szene sehen sich als Opfer einer „Impf-Apartheid“, die jeden aus der Gesellschaft ausstoße, der sich nicht gegen Corona schütze. Vom „Pharma-Faschismus“ schwadronieren führende Figuren der Gruppierung.
Impfgegner, die an Verschwörungserzählungen glauben, seien von Anfang an einer der Kreise, die Querdenken geprägt haben, sagt der Extremismus-Forscher Josef Holnburger, Geschäftsführer des Centers für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS). Doch erst mit dem Beginn der Impfkampagne gegen Corona stehen ihre Botschaften im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Ging es im vergangenen Sommer in der Öffentlichkeit vor allem um das Tragen von Masken zur Bekämpfung der Pandemie, ist es nun die Impfkampagne, auf die das Land blickt – und die von Querdenken attackiert wird. Die Bewegung sät Zweifel an der Sicherheit der Impfstoffe, greift Unsicherheit in der Bevölkerung auf und verzerrt sie ins Groteske. Mit jeder Person, die sich deswegen gegen eine Impfung entscheidet, rückt die Herdenimmunität gegen Corona ein Stückchen weiter weg.
Die Szene mobilisiert und produziert aufwendige Videos für ihre Anti-Impf-Kampagne
Und die Szene vernetzt sich zunehmend in den sozialen Medien, produziert Videos für Youtube, baute Hunderte Kanäle allein auf dem Messengerdienst Telegram auf. Aus Sicht des Verfassungsschutzes geht von einem Teil der dort Aktiven die Gefahr einer „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ aus.
Die „Querdenker“ radikalisieren sich – nach rechts. „Führende Funktionäre von ‚711-Querdenken‘ suchen bewusst den Schulterschluss mit sogenannten Reichsbürgern und Selbstverwaltern, aber auch mit Rechtsextremisten“, sagt Daniel Meyer, Referatsleiter im Landesamt für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg, unserer Redaktion.
Seit Ende 2020 beobachtet der Verfassungsschutz die Gruppe. „Viele springen ab, doch die, die bleiben, gehen immer weiter“, sagt der Antisemitismus-Beauftragte von Baden-Württemberg, Michael Blume, im Gespräch mit unserer Redaktion.
Elementar für die Querdenken-Bewegung, so der Nachrichtendienst, sei „die Agitation gegen die Corona-Schutzimpfung“. Oft bleibe es nicht bei legitimer Äußerung von Sorgen und Kritik am Impfen. „Die Impfkampagne gegen Corona ist vielmehr Vehikel, um Verschwörungstheorien zu äußern oder antisemitische Hetze zu betreiben.
Ein Teil der Deutschen ist impfskeptisch – das nutzt die Querdenken-Bewegung
Es ist die Sorge vieler Menschen, die „Querdenken“ nutzt. Laut Umfragen ist eine Minderheit, aber immerhin rund ein Drittel der Deutschen, skeptisch, was eine Covid-Impfung betrifft. Berichte über Thrombosen im Gehirn nach Impfungen, die wechselnden Empfehlungen, für wen verschiedene Impfstoffe geeignet seien, all das schuf Verunsicherung.
Unter die Corona-Proteste mischen sich auch immer wieder Esoteriker und Anthroposophen. Sie stellen „Naturheilkunde“ und „alternative Medizin“ den Impfungen gegen Corona entgegen. Der Einsatz gegen Impfen sei Kern vieler anthroposophischer Gruppen, sagt der Experte und Blogger Oliver Rautenberg im Gespräch mit unserer Redaktion. Ein Teil der Szene sei zulange als „harmlos“ angetan worden. Rautenberg warnt davor, den Einfluss der Gruppe zu unterschätzen. „In der Größe der Bewegung, aber auch in ihrer Radikalität.“
Auch das hohe Tempo, mit dem die Vakzine entwickelt und zugelassen wurden, ist vielen nicht geheuer. Daran knüpfen jene an, die schon seit langem gegen Impfungen aller Art Stimmung machen – so wie Hans Tolzin.
Ende vergangenen Jahres ist Hans Tolzin als „Experte“ auf dem Kongress „Kinder und Corona“ geladen. Laut Sicherheitsbehörden ist die Veranstaltung ein zentraler Szene-Treffpunkt der Querdenker. Bekannte Impfgegner wie die selbsternannten „Ärzte für Aufklärung“ sind dabei, auch der Anwalt Reiner Füllmich, für den der „digitale Impfpass“ nur ein Instrument einer „Elite“ ist, um „Kontrolle“ über die Menschen zu ergreifen.
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Scharfe Töne gegen „Pharma-Faschismus“
Auch Tolzin ist auf dem Messengerdienst Telegram unterwegs. Gelernt hat er eigentlich Molkereifachmann, doch berufen sieht er sich zum Kampf gegen das Impfen. Auf Telegram gibt er den Pandemie-Experten und Medizin-Journalisten – und immerhin fast 8000 Menschen folgen ihm.
Seit einigen Jahren gibt Tolzin das Szene-Magazin heraus, hat selbst im Eigenverlag ein Buch mit dem Titel „Die Seuchen-Erfinder“ geschrieben, und sieht die Menschen von den „Gesundheitsbehörden für dumm verkauft“.
Seine Anhänger feiern seine Thesen. Auf Nachfrage von unserer Redaktion spricht er von einer „inszenierten Pandemie“ und nennt die Mehrheit der gewählten Abgeordneten im Bundestag „skrupellose Soziopathen“. Die Bundesregierung sei in einen „Pharma-Faschismus“ abgeglitten. Einer überschaubaren Szene von Impfgegnern war Tolzin schon vor Corona ein Begriff. Doch mit Querdenken hat er plötzlich ein bundesweites Publikum für seine kruden Thesen.
Sicherheitsbehörden sind alarmiert: Impfgegner radikalisieren sich
Tolzin steht nach Einschätzung von Fachleuten für einen Trend: Viele Impfgegner beschränken sich nicht mehr nur auf die Kritik am Impfen. Sie wollen den „Systemwandel“. Im Oktober steht Tolzin auf der Querdenken-Bühne in Gelnhausen. Er warnt vor einer „Eskalation aus Lüge und Manipulation“, er fragt in die Menge, wer nicht mehr an die „Reformierbarkeit der Systemparteien“ glaube. Und hebt selbst den Arm.
Auf Youtube feiert Tolzin das Urteil eines Richters in Weimar, der sich gegen die Corona-Schutzvorgaben aussprach. Das Urteil sei „eine Patrone mehr in eurer Pistole gegenüber den Angriffen des Unrechts auf das Recht“, sagt Tolzin. Dann sagt er: „Das heißt jetzt natürlich nicht, dass ihr euch darauf beruhen könnt. Sondern ihr müsst die Pistole ziehen, und ihr müsst die Patrone abschießen. Das müsst ihr tun!“
Auf Nachfrage gibt Tolzin an, dies sei nicht wörtlich gemeint. „Ein Kampf ist es wohl, allerdings in erster Linie ein Kampf des Geistes, wenn man von einigen – selbst auf friedfertige Frauen und Senioren – einprügelnden Polizisten mal absieht“, schreibt er. Dass es nach Kenntnissen der Polizei zuletzt immer wieder Übergriffe von Corona-Leugnern auf Polizisten und Journalisten gab, verschweigt Tolzin.
Prozess vor dem Gericht in Stuttgart eskaliert
Im Dezember stand Tolzin vor Gericht in Stuttgart. Er hatte in der U-Bahn keine Maske getragen. Im Netz rief Tolzin laut Polizei im Vorfeld zu einer Demonstration vor dem Gericht auf, es kamen rund 60 Anhänger. Die Polizei vermerkt später: „Insgesamt kann die Stimmung und das Verhalten der Corona-Gegner als provokativ, zuweilen aggressiv beschrieben werden.“
In zwölf Bundesländern kam es in den letzten Monaten zu Straftaten an Impfzentren, wie eine Anfrage dieser Redaktion unter den Innenministerien der Länder ergab. Oft geht es um Sachbeschädigung – wie in Sachsen, wo Impfzentren des DRK mit Schriftzügen wie „Mörder“ und „Giftlager“ besprüht wurden.
In Bayern und Mecklenburg-Vorpommern kam es auch zu Bedrohungen, im Freistaat wird zudem wegen einer versuchten Brandstiftung ermittelt. Genau diese Meldungen sind aus Sicht von Verfassungsschützer Meyer ein „Alarmsignal einer Verschärfung in Ton und Aktionen der Querdenker-Bewegung“.
Verfassungschützer auch wegen Antisemitismus besorgt
Alarmiert sind die Verfassungsschützer nicht zuletzt, weil die Bewegung häufig Verschwörungsmythen verbreitet, die nur hauchdünn ihre antisemitische Herkunft verschleiern. So erfuhren Teilnehmer des Impfgegner-Kongress‘ „Corona & Kinder“ neben „sachlichen, ehrlichen Zahlen“ zur Pandemie und den Wegen, sich gegen eine „Zwangsimpfung“ zu wehren, auch vom „großen Umbruch“, dem „Great Reset“ – eine der derzeit erfolgreichsten Verschwörungsideologien, die auch die führenden Köpfe von „Querdenken“ verbreiten.
Ursprünglich eine von Weltwirtschaftsforums-Gründer Klaus Schwab in Davos entworfene Idee für einen nachhaltigeren Kapitalismus, hat der Begriff längst ein Eigenleben entwickelt. Als angeblicher „Umsturz von oben“, voran getrieben von einer von finsteren Absichten getriebenen Elite.
Ein klassisches antisemitisches Motiv, sagt Michael Blume, Antisemitismus-Beauftragter von Baden-Württemberg. Hier zeige die Judenfeindlichkeit der Impfgegner-Bewegung, „wenn von einer Verschwörung etwa durch die angeblich von Juden gesteuerten Institutionen wie der Weltwirtschaftsforum und der Vereinten Nationen fabuliert wird“. Mit der Unterstellung eines Plans zum Schaden aller, warnt auch Extremismus-Forscher Holnburger, werde Gewalt gegen die als Ziel markierten Gruppen legitimiert.
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Prognosen der Impfgegner durch die Realität widerlegt
Bei den Organisatoren von Querdenken selbst sieht man freilich keine Gefahr, dass man irgendjemanden zu Gewalt anstacheln könne.
Man fühlt sich missverstanden und grundlos verdächtigt. Im Kern handele es sich bei Querdenken um „eine demokratische und friedliche Bewegung“, sagt ein Mitglied des Presseteams am Telefon. Dass der Verfassungsschutz sie beobachte, mute deshalb „orwellsch“ an.
Es gebe auch keine einheitliche Position zu Impfungen insgesamt – nur den Corona-Impfungen, denen stehe man skeptisch gegenüber. Auch wolle man nicht auf Einrichtungen wie das Robert-Koch-Institut verzichten. Man wünsche sich nur, dass gleichzeitig auch andere Quellen angehört würden, Wolfgang Wodarg und Sucharit Bhakdi zum Beispiel. Die beiden gehören zu jenen Medizinern und Wissenschaftlern, die die Gefahren des Virus seit Beginn der Pandemie herunterspielen.
Die Szene ist unter Druck. Nicht nur der Inlandsgeheimdienst kann die radikalen Kräfte nun abhören – auch die politischen Erfolge sind überschaubar. Immer mehr Menschen lassen sich impfen. Am Anfang propagierten die extremistischen Impfgegner laut Beobachtern der Szene noch, dass bis zu ein Viertel aller Geimpften sterben würde. Das trat nicht ein – und Geimpfte erhalten nun Freiheiten zurück. Während ein Teil der Szene sich in der Konsequenz frustriert zurückzieht, sehen Experten die Gefahr, dass ein anderer Teil sich weiter radikalisieren könnte.
100.000 Belohnung für einen „Beweis für die Existenz von Masern-Viren“
Am Telefon ist der Tonfall des Querdenken-Sprechers freundlich. „Wir legen Wert darauf, dass auf unseren Bühnen Sprecher reden, die moderat auftreten“, sagt er. Doch immer wieder finden sich auf den Bühnen der Bewegung auch Sprecher, die alles andere als moderat sind.
Zu ihnen gehört Stefan Lanka. Der 57-Jährige agitiert seit Jahren gegen Impfungen, eines seiner Bücher trägt einen Titel, in dem er Impfungen mit dem Holocaust gleichsetzt. Lanka behauptet fälschlicherweise, dass es Viren überhaupt nicht gebe. 2011 lobte er sogar 100.000 Euro Belohnung aus, wenn ihm jemand einen Beweis für die Existenz von Masern-Viren vorlegen könne.
In der Querdenken-Bewegung wird Lanka gefeiert. Als er im April auf einer Demonstration in Stuttgart spricht, verweist die Moderation darauf, dass Lanka in Virologie promoviert habe. Tatsächlich weist die Nationalbibliothek eine Dissertation des Biologen von 1994 zum Thema aus: Lanka forschte an einer Virus-Infektion – allerdings nicht beim Menschen, sondern bei Ectocarpus siliculosus, einer Algenart.