Karlsruhe/Berlin. Verfassungsgerichts-Präsident Stephan Harbarth sieht die Pandemie als Stresstest für die Demokratie. Die Regierung nimmt er in Schutz.

Vom Karlsruher Schlossbezirk aus blickt Stephan Harbarth auf die Pandemie und die Bemühungen der Politik, sie einzudämmen. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts schaltet sich per Video aus einem Besprechungsraum zu, hinter ihm an der Wand stehen schwere Bände mit früheren Gerichtsentscheidungen.

Im Interview verrät Harbarth, was er von den Corona-Runden der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten mit der Bundeskanzlerin hält.

Wir erleben die massivsten Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik. Warum schreitet das Bundesverfassungsgericht nicht ein?

Stephan Harbarth: Das Bundesverfassungsgericht wird nur dann tätig, wenn es angerufen wird. Es entscheidet nicht danach, welches Konzept für den Umgang mit der Pandemie ihm am zweckmäßigsten erscheint, sondern am Maßstab der Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Dabei wendet es die gleichen Kriterien an, die es in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Einzelne Maßnahmen hebt es deshalb auf, andere nicht. Die getroffenen Maßnahmen greifen nicht nur tief in Grundrechte ein, sie dienen zugleich dem Schutz sehr gewichtiger Grundrechte, nämlich der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das Bundesverfassungsgericht erhält übrigens nicht nur Verfassungsbeschwerden, die sich gegen die ergriffenen Maßnahmen richten, sondern auch solche, die weitergehende Grundrechtsbeschränkungen verlangen.

Verteidigt das deutsche Corona-Management: Stephan Harbarth (49), Präsident des Bundesverfassungsgerichts.
Verteidigt das deutsche Corona-Management: Stephan Harbarth (49), Präsident des Bundesverfassungsgerichts. © Photothek via Getty Images | Florian Gaertner

Was geht Ihnen zu weit?

Das Bundesverfassungsgericht hat zum Beispiel generelle Verbote von Gottesdiensten und Demonstrationen aufgehoben. Deshalb finden diese derzeit zwar anders statt als vor der Pandemie, etwa unter Abstandswahrung und mit Mund-Nasen-Bedeckung, aber sie finden statt.

Eine Aushöhlung des Rechtsstaats sehen Sie nicht?

Diese Pandemie ist in allen freiheitlichen Ordnungen ein Stresstest für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, auch in Deutschland. Aber die Bekämpfung des Coronavirus vollzieht sich in den Bahnen des Rechts. Die Justiz kommt ihrer Aufgabe uneingeschränkt nach. Ich halte von alarmistischen Abgesängen auf den Rechtsstaat nichts.

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Ist es verhältnismäßig, ganze Wirtschaftszweige über Monate stillzulegen?

Welche Wirtschaftszweige unter welchen Voraussetzungen wie lange Beschränkungen hinzunehmen haben, lässt sich nicht pauschal beantworten. Dies hängt neben den berechtigten und gewichtigen Interessen der Selbstständigen insbesondere von den Risiken des Infektionsgeschehens ab. Vieles über Ausbreitung, Gefährlichkeit und Langzeitfolgen des Virus ist bis heute nicht abschließend geklärt. Im Augenblick wird etwa darüber diskutiert, dass die britische Virusvariante, die sich derzeit in Deutschland stark ausbreitet, für Kinder deutlich ansteckender und gefährlicher sein könnte als vorangegangene Virusvarianten. In einer solchen Situation großer Unsicherheit ist der Entscheidungsspielraum der Politik tendenziell größer als bei einem einfachen und überschaubaren Sachverhalt. Die Gerichte prüfen, ob die Politik in nachvollziehbarer Weise zu ihren Einschätzungen gelangt ist – und ob die verschiedenen Grundrechte in einen angemessenen Ausgleich gebracht wurden: einerseits etwa die Berufsfreiheit, andererseits das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Frage, ob das in allen Wirtschaftszweigen verhältnismäßig war, wird die Gerichte auf Jahre hinaus beschäftigen.

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    Gibt es eine zeitliche Obergrenze für den Lockdown?

    Je länger solche Maßnahmen andauern, desto strenger sind die Anforderungen an ihre Rechtfertigung. Die Politik darf aber auch in einem fortgeschrittenen Stadium einer Pandemie die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht ausblenden. Es wird deshalb insbesondere auf die jeweilige Gefahrensituation ankommen, also auch auf den Fortgang der Impfkampagne und die Risiken von Mutanten.

    Ein milderes Mittel wäre eine effektive digitale Kontaktnachverfolgung. Liegt es am Datenschutz, dass sich unser Land damit so schwertut?

    Der Datenschutz hat einen hohen Stellenwert. Er ist aber der Abwägung mit kollidierenden Verfassungsgütern nicht entzogen. Das Grundgesetz kennt jedenfalls keinen uneingeschränkten Vorrang des Datenschutzes vor dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

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    Übertreiben es die Deutschen also mit dem Datenschutz?

    Das außerhalb eines anhängigen Verfahrens zu beurteilen, ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts.

    Wie groß ist der Vertrauensverlust, den die Politik mit dem Corona-Management – zuletzt beim Hin und Her mit der Osterruhe – erlitten hat?

    Alle freiheitlichen Gesellschaften haben in der Pandemie mit kolossalen Herausforderungen zu kämpfen, und natürlich ist jeder Fehler einer zu viel. Wenn man aber unter Zeitdruck und unter Unsicherheit entscheiden muss, besteht immer die Gefahr von Fehlern. Gleichzeitig sollte man nicht ausblenden, dass die Verantwortlichen ihre Entscheidungen mit dem Kenntnisstand von heute treffen müssen, die Bewertung dieser Entscheidungen dann aber oft einige Wochen später auf Grundlage eines ganz anderen Kenntnisstandes erfolgt. Rückblickend mag dann als Fehler erscheinen, was man in der konkreten Entscheidungssituation vielleicht gar nicht wirklich hätte besser machen können. Ich bin aber unverändert zuversichtlich, dass unser Gemeinwesen die Pandemie letztlich bewältigen und auch verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen wird.

    Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts, dessen Vorsitzender Stephan Harbarth (Dritter von li.) ist.
    Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts, dessen Vorsitzender Stephan Harbarth (Dritter von li.) ist. © picture alliance/dpa | Uli Deck

    Ist eine Videoschaltkonferenz der Regierungschefs von Bund und Ländern der richtige Ort für wesentliche Weichenstellungen in der Pandemie?

    Die wesentlichen Entscheidungen in der Demokratie des Grundgesetzes gehören in die Parlamente. Die Notwendigkeit einer raschen Reaktion auf neue Entwicklungen erfordert aber auch Handlungsspielräume für die Regierungen. Sind die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern aufgeteilt, so führt bei lebensnaher Betrachtung kein Weg an einem Koordinierungsgremium vorbei. Die Befugnisse der Parlamente dürfen dadurch aber nicht verkürzt werden.

    Die Wirklichkeit ist eine andere. Der Bundestag debattiert über Entscheidungen, die Kanzlerin und Ministerpräsidenten bereits getroffen haben.

    Wenn zur Umsetzung dessen, was Kanzlerin und Ministerpräsidenten besprochen haben, eine Parlamentsentscheidung erforderlich ist, dann wird die Maßnahme erst mit der Parlamentsentscheidung wirksam.

    Erschwert der Föderalismus den Kampf gegen Sars-CoV-2?

    Frankreich kennt keinen Föderalismus und kommt mit seinem zentralstaatlichen Ansatz bisher schlechter durch die Krise als Deutschland. Auch bei uns wäre in den vergangenen Jahrzehnten nicht automatisch alles besser geworden, wenn jede Detailentscheidung für den Schwarzwald, das Ruhrgebiet oder die Ostseeküste in Berlin getroffen worden wäre. Gleichzeitig mag es Konstellationen geben, in denen ein bundesweit einheitliches Vorgehen sinnvoller sein kann als föderale Vielfalt. Letztlich gibt das Grundgesetz hierfür nur einen Rahmen vor, innerhalb dessen der Gesetzgeber sich für mehr oder weniger Föderalismus entscheiden kann.

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    Wenn wesentliche Entscheidungen in die Parlamente gehören – warum darf Gesundheitsminister Spahn dann per Verordnung über die Reihenfolge bei den Impfungen entscheiden?

    Diese Frage wird nach meiner Einschätzung noch viele Gerichte und auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigen. Wir erleben, dass Impfstoffe knapp sind und sich von Woche zu Woche neue wissenschaftliche Erkenntnisse ergeben. Das erfordert Flexibilität. Aber natürlich gilt auch hier der Satz, dass wesentliche Entscheidungen vom Parlament getroffen werden müssen. Ob in diesem Zusammenspiel der richtige Weg gefunden wurde, müssen letztlich die Gerichte entscheiden.

    Sollten Geimpfte ihre Freiheitsrechte zurückbekommen?

    Es geht nicht um die Rückgabe von Grundrechten. Jeder besitzt die im Grundgesetz verbürgten Grundrechte – in der Pandemie ebenso wie vor der Pandemie und nach der Pandemie. Verschiedene Grundrechte wie etwa die Versammlungsfreiheit, das Recht auf Schulbesuch, die Berufsfreiheit oder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit kollidieren aber in der Pandemie in einer Weise, wie wir dies zuvor nicht kannten. Es geht deshalb darum, die betroffenen Grundrechte in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Für die Beurteilung der grundrechtlichen Auswirkungen der Impfungen ist voraussichtlich von Relevanz, ob eine Impfung nur vor eigener Erkrankung oder zuverlässig auch vor der Weitergabe des Virus an Dritte schützt.

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      Geimpfte dürfen also nur dann auf Normalität hoffen, wenn sie andere nicht mehr anstecken können?

      Wenn ein geimpfter Mensch niemanden anstecken kann, dürfte das von ihm ausgehende Infektionsrisiko grundrechtlich anders zu beurteilen sein, als wenn er noch ansteckend ist und nur selbst nicht mehr erkranken kann.

      Der Widerstand gegen das Corona-Management zeigt sich auch auf der Straße, und er wird beherrscht von Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremen. Macht Ihnen das Sorgen?

      Demonstrationen sind Ausdruck einer funktionierenden Demokratie. Aber auch mit Bürgerrechten muss man verantwortungsbewusst umgehen. Wenn in einer Pandemie auch auf einer Demonstration das Einhalten von Abstandsregeln oder das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung gefordert wird, dann ist das nicht per se unzulässig. Und wer demonstriert, sollte aufpassen, hinter welchen Parolen er herläuft. Wir leben in keiner Diktatur, sondern in einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat. Dieses Glücks sollte man sich auch und gerade in schwierigen Zeiten bewusst sein.

      Aus dem Archiv: Stephan Harbarth – vom Abgeordneten zum Verfassungsrichter?

      Fehlverhalten von Politikern kann den Verdruss in der Bevölkerung steigern. Wie bewerten Sie die sogenannte Maskenaffäre, in der Bundestagsabgeordnete für die Vermittlung von Corona-Schutzmasken mehrere Millionen Euro als Provision erhalten haben sollen?

      Der Präsident des Deutschen Bundestags hat dazu deutliche Worte gefunden. Ihnen ist nichts hinzuzufügen.

      Bundestagspräsident Schäuble nannte dieses Verhalten „schlicht unanständig“. Hat die deutsche Politik ein Korruptionsproblem?

      Der Deutsche Bundestag hat die ihm gestellten Herausforderungen über 70 Jahre gemeistert. Es wird ihm auch in dieser Frage gelingen.

      Wie darf man sich den Karlsruher Gerichtsbetrieb im Pandemiemodus vorstellen? Arbeiten Sie auch im Homeoffice?

      Das Bundesverfassungsgericht funktioniert uneingeschränkt. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch die Richterinnen und Richter bringen sich in der schwierigen Situation mit großem Engagement ein. Manche Arbeiten können von zu Hause aus erledigt werden, manche erfordern die Anwesenheit am Gericht.

      Wie denken Sie über digitale Verhandlungen des Bundesverfassungsgerichts?

      Mündliche Verhandlungen und Urteilsverkündungen können im Augenblick nur unter Wahrung der allgemeinen Hygienestandards stattfinden. Wir werden in den kommenden Monaten daher erforderlichenfalls auf größere Räumlichkeiten zurückgreifen. Digitale Verhandlungen des Bundesverfassungsgerichts sind derzeit nicht vorgesehen.