Berlin. Leere Stadien: keine Randale. Homeoffice: Einbrecher in Kurzarbeit. Die Kriminalität ging im Coronajahr 2020 zurück – mit Ausnahmen.

Ein Bundesland nach dem anderen stellt in diesen Tagen seine Kriminalstatistik 2020 vor. Und die Superlativen gleichen sich: Niedrigste Kriminalitätsbelastung seit 1991 (Baden-Württemberg), 1990 (Nordrhein-Westfalen), 1980 (Hessen), oder 1979 (Bayern). In Sachsen liegt sie im dritten Jahr in Folge auf dem niedrigsten Stand seit Anfang der 90er Jahre.

In der Pandemie ging die Zahl der Verbrechen zurück, obwohl 2020 bis März und zwischen Juni und September fast ein normales Jahr war. In einigen Feldern, Beispiel Eigentums- und Gewaltkriminalität, sei „ein rückläufiger Trend der Fallzahlen feststellbar“, teilt das Bundesinnenministerium auf Anfrage unserer Redaktion mit.

Vier Kriminalitätstrends im Coronajahr

Während der Lockdown-Phasen habe sich die Bevölkerung weitestgehend zuhause aufgehalten, „sodass sich die Tatgelegenheiten beispielsweise für Wohnungseinbruchdiebstahl, aber auch für Laden- und Taschendiebstahl deutlich verringert haben“, erklärt das Ministerium. Ebenso verhalte es sich bei Körperverletzungs- oder Raubdelikten. Es gibt allerdings auch vier Gegentrends.

1. Angriffe auf Polizei und Hilfskräfte

Die Gewerkschaft der Polizei beklagt es seit Jahren. Jeder Polizistin und Polizist kenne Situationen, in denen ihm „unvermittelt Brutalität entgegen schlägt“. Für das Jahr 2020 erwartet das Bundesinnenministerium mehr Fälle von Widerstand gegen Polizeivollzugsbeamte.

Das überrascht, weil in der Pandemie das öffentliche Leben heruntergefahren wurde. Oft konnten die klassischen Konfliktsituationen gar nicht erst entstehen, in denen – zumeist unter Alkoholeinfluss – Streitigkeiten eskalieren und die Polizei zwischen den Fronten gerät. Große Volksfeste fielen aus, Kneipen, Bars und Clubs blieben Zeiträume geschlossen.

Zehn Länder melden mehr Übergriffe

Eine Anfrage dieser Redaktion zeigt, dass die Zahl der Übergriffe auf Polizeibeamte in zehn von 16 Ländern im Vergleich zum Vorjahr auf hohem Niveau verharrte oder gestiegen ist, in Baden-Württemberg um 3,2 Prozent, in Bayern um 4,2 Prozent, in Rheinland-Pfalz um 8,4 Prozent, in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Hamburg um mehr als zehn Prozent, in Berlin um über 18 Prozent von 1904 auf 2.254 Fälle. Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland und Niedersachsen machten keine Angaben.

Gegen den Trend gab es in Brandenburg leicht und in Nordrhein-Westfalen deutlich (Minus zehn Prozent) weniger Fälle. In Brandenburg waren es immer noch drei Fälle pro Tag, „viele zu viele“, sagt Innenminister Michael Stübgen (CDU).

In Hessen, wo die Polizei freilich wegen rechter Chats in ihren Reihen, unter Druck steht, vermutet Landespolizeipräsident Roland Ullmann, dass seine Beamtinnen und Beamten „mittlerweile als Projektionsflächen für den Frust jeglicher Art herhalten mussten“. Nicht zuletzt mussten sie die Corona-Auflagen im Lockdown durchsetzen.

2. Cyberkriminalität - Delikte verlagerten sich ins Internet

Als eine Kripo-Arbeitsgruppe von Bund und Ländern Anfang April 2020 mögliche Auswirkungen von Covid-19 analysierte, war ihre erste Vermutung, dass sich viele Delikte ins Internet verlagern würden.

Es geht zum einen um Straftaten gegen das Netz, zum anderen um Verbrechen, die über das Internet begangen werden, Fälschungs- und Vermögensdelikte, etwa Betrug beim Online-Shopping. Mehrere Länder melden deutlich mehr Fälle, plus 20 Prozent und mehr, 29,1 Prozent in Sachsen.

Deutlich mehr Cyberangriffe und Computerkriminalität

Hessen ist auf den ersten Blick die Ausnahme von der Regel. Dort sind die Zahlen gesunken. Das liegt an einem großen Ermittlungsverfahren im Vorjahr. Betrachtet man die Entwicklung über länger als ein, zwei Jahre ist der Trend in Hessen eindeutig. Von 2016 bis 2020 stiegen die Fallzahlen bei der Internetkriminalität von 17.561 auf 27.763. Lesen Sie auch: Cyberattacken: Warum Angriffe so oft den Mittelstand treffen

3. Kinderpornografie: Enormer Anstieg der Fälle

Wenn Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, im Frühjahr die länderübergreifende Polizeistatistik vorstellen, gilt ein Hauptaugenmerk der Kinderpornografie. Lesen Sie auch: BKA: Verbreitung von Kinderpornos nimmt dramatisch zu

Die Anstiege sind enorm, ob in Brandenburg (34,8 Prozent), Hessen (44,5 %), Bayern (57,4 %) oder Baden-Württemberg (57,6%). Zum einen wurden amerikanische Internet-Provider verpflichtet, strafbares Nutzerverhalten über eine Nicht-Regierungs-Organisation zu übermitteln. Zum anderen ist der Fahndungsdruck gestiegen.

Nordrhein-Westfalen hat das Personal vervierfacht und technisch aufgerüstet. In NRW ist die Zahl der Fälle um 102,5 Prozent gestiegen. „Die Fälle sind nicht mehr geworden, wir sehen sie nur endlich“, sagt Innenminister Herbert Reul (CDU), „wir hellen das Dunkelfeld aus“.

4. Mehr Häusliche Gewalt - Dunkelfeld vermutet

Zuwächse bei häuslicher Gewalt vermelden unter anderem Sachsen, Hessen, Baden-Württemberg und NRW, in Brandenburg um fast 20 Prozent, während sich die Zahlen im Bayern etwa auf dem Niveau des Vorjahres bewegen.

Das Bundesinnenministerium vermutet ein Dunkelfeld, da das Entdeckungsrisiko solcher Straftaten durch Personen außerhalb der Familie reduziert sei. Zudem melden sich die Opfer, meist Frauen, oft nicht bei der Polizei, sondern suchen Schutz in Frauenhäusern. Für Brandenburgs Innenminister Stübgen ist häusliche Gewalt „ein prägendes Deliktfeld“ im Coronajahr, die „andere Seite der Medaille“ der rückläufigen Kriminalität. Lesen Sie auch: Häusliche Gewalt nimmt zu - Giffey drängt auf Schutzanspruch