Berlin. Das SPD-Programm zielt auf Wähler, die in der Krise abgehängt wurden. Damit könnte die Partei Erfolg haben, sagt Kommentator Jörg Quoos.

Sechs Monate vor der Bundestagswahl werden die Kanten immer klarer, an denen entlang nach dem 26. September eine neue Regierung zusammenfügt werden kann. Schwarz-Grün galt lange als die plausibelste und vielleicht auch die interessanteste Neupaarung, weil auch dem Letzten klar ist: Nach der zweiten Auflage der großen Koalition ist die Luft raus bei Schwarz-Rot. Weder Union und SPD noch die Wähler haben Lust auf eine dritte Runde.

Aber es muss noch lange nicht zwingend auf eine Liebesheirat zwischen grün angestrichenen Konservativen und sich konservativ gebenden Grünen hinauslaufen. „Opposition ist Mist“, analysierte schon Franz Müntefering treffend. Und für die Genossen gibt es durchaus eine realistische Regierungsoption – und zwar links.

SPD lockt mit einem linken Programm

Die SPD-Doppelspitze hat jetzt ihren Vorständen die Ideen für das Wahlprogramm auf den Tisch gepackt, und die eröffnen folgerichtig neue Perspektiven. Vieles davon wird im Lager einer mittlerweile machtverwöhnten Linkspartei gut ankommen. Die harte Abkehr von Hartz IV, die Besteuerung der sogenannten Besserverdiener, ein Tempolimit.

Was Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken jetzt aufgeschrieben haben, ist kompatibel für ein rot-rot-grünes Projekt – oder eher für ein grün-rot-rotes Projekt, wenn man realistisch auf die derzeitigen Mehrheiten blickt. Die Parteivorsitzenden haben wahrlich kein Programm für Maschinenstürmer vorgelegt. Aber die Tonalität ist unüberhörbar, und sie klingt im linken Lager und bei abgehängten Wählern sicher verlockend.

Sozialdemokraten haben Verantwortung bewiesen

Jörg Quoos, Chefredakteur der Funke Zentralredaktion.
Jörg Quoos, Chefredakteur der Funke Zentralredaktion. © Dirk Bruniecki

Wer der SPD jetzt Anbiederung nach links vorwirft, darf nicht verkennen: Die alte Arbeiterpartei hat gute Gründe, sich an ihre Urklientel zu erinnern. In zwei großen Koalitionen haben die Sozialdemokraten Verantwortung bewiesen. Aber es hat der Partei nichts gebracht. Im Gegenteil: 16 Prozent sind fast schon Todeszone, und die Corona-Krise vergrößert Tag für Tag das Heer der Unzufriedenen, die sich einen starken Anwalt und nicht Peter Altmaier an ihrer Seite wünschen.

Wer gut verdienend durch die Krise kam und vom Boom der Börsen auch noch profitieren konnte, wird nicht zwingend sein Kreuz bei den Sozialdemokraten machen. Wer aber gerade so über die Runden kam und ohne Verfügungsmasse zusehen muss, wie Hausbesitzer, Aktienkäufer oder Bitcoin-Spekulanten finanziell enteilen, sucht einen politischen Partner, der passt.

Olaf Scholz – ein solider Politiker mit Führungsqualitäten

Das vorgelegte Dating-Profil von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans klingt links kompatibel. Aber nicht nur beim Programm bekennt die SPD Farbe. Während die Union sich noch vom Kampf um den Parteivorsitz erholen muss, gibt es schon lange einen ernst zu nehmenden Kanzlerkandidaten. Olaf Scholz mögen viele ja langweilig finden, aber er ist grundsolide und kann führen. Lesen Sie hier: Wie aus dem Verlierer Olaf Scholz der Kanzlerkandidat wurde

Und was jetzt besonders wichtig ist: Er wird dafür sorgen, dass beim Linksabbiegen der SPD keinem schwindelig wird. Wer wie Scholz erfolgreich selbst regiert hat, wer den Bundeshaushalt kontrolliert und den Titel Vizekanzler trägt – der wird Augenmaß bewahren und schwer als Hasardeur angreifbar sein.

Wer rechnen kann, weiß schon länger, dass eine linke Mehrheit im Bereich des Möglichen liegt. Und beim Höhenflug der Union ist die Schubumkehr durch eigene Fehler längst eingeleitet. Die schleppende Impfkampagne, die Pannen des Jens Spahn und ein mutmaßlicher Abkassierer im Bundestag werden Zustimmung kosten. Kurzum: Das Rennen um die Macht wird im September viel spannender und enger, als mancher noch vor Kurzem gedacht hat.

Mehr zum Thema: Rolf Mützenich: SPD-Fraktionschef für Corona-Sonderurlaub