Berlin. Hat es Deutschland noch in der Hand, die rasante Ausbreitung hochinfektiöser Virusvarianten zu verhindern? Was Experten jetzt raten.
Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, gegen die rasante Ausbreitung hochinfektiöser Virusvarianten. Bislang gibt es in Deutschland nur einzelne Ausbrüche, doch die Regierung ist alarmiert: „Wir haben im Hintergrund die dunkle Wolke einer sehr ernsthaften Gefahr“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin. Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) hatte am Sonntag prophezeit, dass die Mutante B.1.1.7 auch in Deutschland „die Führung übernehmen“ werde. Wie lässt sich der Wettlauf noch gewinnen?
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Wie verbreitet sind Corona-Mutationen in Deutschland?
Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts waren am Montag 51 Fälle der zunächst in Großbritannien beobachteten Virusvariante (B.1.1.7) gemeldet worden, plus 19 Fälle der südafrikanischen Variante. Mittlerweile gebe es Fälle in acht Bundesländern – neben Berlin und Schleswig-Holstein auch in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen. Besorgniserregend sind aktuell vor allem die beiden große Ausbrüche in Berlin, wo sich Patienten und Personal eines Krankenhauses angesteckt hatten, und in Flensburg, wo es zu einem Ausbruch unter Leiharbeitern eines dortigen Betriebs gekommen war.
Im Fall der Berliner Klinik waren zuletzt 24 Patienten und Mitarbeiter betroffen. Anders als bei früheren Infektionsfällen mit der britischen Virusvariante, ließen sich hier keine Verbindungen zu Reisen nach Großbritannien rekonstruieren. Aktuell herrscht ein Aufnahmestopp in der Klinik. Nach Angaben vom Wochenende sind rund 400 Menschen in der Klinik in Behandlung. Die 1700 Mitarbeiter stehen unter sogenannter Pendelquarantäne. Sie dürfen nur zwischen ihrem Zuhause und der Klinik unterwegs sein.
Corona-Mutationen suchen, finden – und dann?
Ärztepräsident Klaus Reinhardt mahnt zu extremer Wachsamkeit: „Man kann nicht jede positive Testprobe genetisch überprüfen. Aber überall dort, wo in einem Betrieb, einer Klinik oder einem Pflegeheim eine plötzliche Häufung von Fällen auftritt, müssen die Testproben unmittelbar nachuntersucht, sequenziert und nach der Virusmutation untersucht werden“, sagte Reinhardt unserer Redaktion.
Dort, wo Fälle mit hochinfektiösen Mutanten auftreten, müsse sehr konsequent gehandelt werden, um die Kontaktketten zu unterbrechen. Dazu müssten Infizierte und ihre Kontaktpersonen unter strenge Quarantäne gestellt werden. „Damit sie auch eingehalten wird, müssen die Gesundheitsämter die Auflagen engmaschig kontrollieren“, forderte der Präsident der Bundesärztekammer. Und: „Sollte es zu einem größeren Ausbruch zum Beispiel in einer Klinik kommen, müssen der Betrieb oder zumindest die entsprechende Station vorübergehend stillgelegt und die Patienten verlegt werden.“ Eine Pendelquarantäne wie in der Berliner Klinik, bei der sich das Personal zweimal täglich zwischen Arbeitsplatz und Wohnung hin- und herbewege, sei keine tatsächliche Quarantäne.
Viel hängt jetzt, mal wieder, am öffentlichen Gesundheitsdienst: „Den Gesundheitsämtern hilft im Moment, dass die Zahl der Kontakte durch den harten Lockdown beschränkt ist“, sagte Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienst (BVÖGD), unserer Redaktion. „Deshalb ist es für die Kontrolle der Pandemie so wichtig, die Kontakte weiter niedrig zu halten.“ Die Zahl der Kontakte dürfe nicht nach oben schnellen, solange man die Ausbreitung der Virusmutationen fürchten müsse.
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Die Kontakte reduzieren – aber wie lange noch?
Der harte Lockdown wirkt, die Infektionszahlen sinken, die Debatte um Lockerungen nimmt Fahrt auf. Experten aber warnen dringend davor, zu früh den Kurs zu wechseln: „Bevor wir die Maßnahmen lockern können, müssen wir zwei Dinge erreichen“, sagt die Medizinerin Teichert. Erstens seien bundesweit einheitlich nachvollziehbare und transparente Regelungen für alle Bereiche, also auch für Kitas und Schulen nötig.
Zweitens: „Wir müssen die Infektionszahlen so tief wie möglich nach unten drücken. Wir können nicht bei einer Inzidenz von 100, 70 oder 50 schon wieder Lockerungen vornehmen.“ Es sei nötig, langfristig unter eine Inzidenz von 50 zu kommen, so die Vorsitzende der deutschen Amtsärzte. „Als Zielvorstellung halte ich eine Zero-Covid-Strategie, also eine Orientierung an einer Inzidenz im einstelligen Bereich für richtig.“
Aus Sicht von Ärztepräsident Reinhardt sind erste Lockerungen denkbar, wenn drei Faktoren zusammenkämen: Die Infektionszahlen müssten weiter deutlich sinken, kleinere Ausbrüche der hochinfektiösen Mutanten müssten gut kontrolliert sein und ein großer Teil der Pflegebedürftigen und des medizinischen Personals müsse geimpft sein. „Sollte das tatsächlich bereits Mitte Februar der Fall sein, kann man über erste, vorsichtige Lockerungen nachdenken“, so Reinhardt.
Das Problem: Die Leute werden jetzt schon pandemiemüde, warnt Schleswig-Holsteins Gesundheitsminister Heiner Garg. Angesichts des Virus-Ausbruchs in Flensburg zeigte sich der FDP-Politiker besorgt: „Auch vor Virus-Varianten schützen Kontaktbeschränkungen, Maske, Abstand halten und Hygiene immer dann wirkungsvoll, wenn alle sich daran halten“, sagte Garg unserer Redaktion. „Das ist für viele Menschen sehr anstrengend – und die Motivation sinkt naturgemäß, je länger die Pandemie dauert.“
Schneller impfen – aber wie?
Angesichts der Lage wird der Ruf nach einer Beschleunigung der Impfkampagne lauter. Bislang hinkt Deutschland hinterher: Nach jüngsten Daten wurden hierzulande 1,95 Prozent der Bevölkerung geimpft – in Israel dagegen 41 Prozent, in Großbritannien 10 Prozent, in den USA 6,2 Prozent. Aber auch EU-Staaten wie Italien (2,3), Irland (2,5) oder Dänemark (3,5 Prozent) stehen besser da als die Bundesrepublik. Beim EU-Gipfel hatte Kanzlerin Angela Merkel mit den anderen Regierungschefs gefordert, die Impfungen zu beschleunigen, tatsächlich passiert das Gegenteil: Nach Biontech-Pfizer hat auch der Hersteller Astrazeneca (dessen Impfstoff Ende der Woche zugelassen werden soll) mitgeteilt, dass er im ersten Quartal weniger Vakzin an die EU-Staaten liefern wird – um 60 Prozent kürzt der Pharmakonzern seine Auslieferung, von 80 Millionen auf 31 Millionen Dosen, weil es eine geringere Produktion an einem Standort in der europäischen Lieferkette gebe. Deutschland soll zunächst gerade mal drei Millionen Dosen bekommen.
Die EU wehrt sich massiv. Am Montagmorgen protestierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen persönlich beim Chef von Astrezeneca, Pascal Soriot. Am Mittag kam in Brüssel das Impfstoff-Lenkungsgremium zu einer Krisensitzung zusammen. Die Botschaft: Wenn nicht pünktlich geliefert oder wenigstens guter Wille gezeigt wird, stehen Konsequenzen im Raum – bis hin zur Option, den Impfstoff notfalls mittels Zwangslizenzen von anderen Firmen produzieren zu lassen. Als erste Maßnahme könnten alle Hersteller verpflichtet werden, die Menge ihres in der EU hergestellten Impfstoffs registrieren und die Ausfuhr in Drittstaaten genehmigen zu lassen. Das wäre ein Hebel, um notfalls Impfstoff-Exporte zu stoppen.
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