Brüssel. Das Brexit-Dinner von Ursula von der Leyen und Boris Johnson brachte keinen Durchbruch. Die Briten fürchten schon Versorgungsengpässe.
Das Drama um einen Brexit-Handelsvertrag geht weiter. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der britische Premier Boris Johnson haben auch bei einem Arbeitsessen in Brüssel am Mittwochabend keinen Durchbruch bei den großen Streitpunkten erzielt.
Es habe eine „lebendige und interessante Diskussion“ über die Liste der Probleme gegeben, teilten beide kurz vor Mitternacht in einer knappen Erklärung mit. Man habe ein klares Verständnis für die Position der anderen Seite bekommen, die Auffassungen lägen aber weit auseinander.
Die Verhandlungsteams sollen jetzt versuchen, die wesentlichen Probleme zu lösen – doch die Uhr tickt: „Wir werden zu einer Entscheidung zum Ende des Wochenendes kommen“, erklärten von der Leyen und Johnson. Vertrag oder harter Bruch – das Ultimatum bis Sonntag macht ein Handelsabkommen rechtzeitig zum Jahreswechsel nicht wahrscheinlicher, das Chaos rückt näher: Die EU wird jetzt wohl Notfallmaßnahmen einleiten, in Großbritannien geht die Furcht vor Versorgungsengpässen um.
Streitgespräch bei Steinbutt und Jakobsmuscheln
Johnson war am Mittwochabend in die Brüsseler Zentrale der EU-Kommission gereist, wo ihn von der Leyen zu einem Abendessen empfing. Das Treffen war vereinbart worden, weil sich die beiden bei einem Telefonat am Montagabend nicht mehr in der Lage sahen, die tiefgreifenden Differenzen beizulegen.
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Begleitet von den Chefunterhändlern Michel Barnier und David Frost berieten sie zunächst eine halbe Stunde in einem Sitzungsraum, bevor von der Leyen gegen 20.30 Uhr in etwas erweiterter Runde zum Abendessen bat: Serviert wurden Kürbissuppe und Jakobsmuscheln, als Hauptgang gedünsteter Steinbutt, Kartoffelpüree mit Wasabi und Gemüse und als Nachspeise Pavlova mit exotischen Früchten und Kokusnuss-Sorbet.
Die Auswahl war durchaus hintersinnig: Um Fisch, genauer die Fischereirechte in der britischen Nordsee, dreht sich ein Teil des Streits. Um den Fang von Jakobsmuscheln hatten sich britische und französische Fischer vor zwei Jahren sogar eine gewalttätige Auseinandersetzung auf hoher See geliefert.
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Johnson macht Brüssel Vorwürfe
EU-Unterhändler waren aber schon im Vorfeld skeptisch, dass beim Dinner nun alle Streitpunkte ausgeräumt werden könnten. Im Unterhaus hatte Johnson vor seiner Abreise kritisiert, die EU bestehe auf einigen Standpunkten, die kein Premierminister Großbritanniens akzeptieren sollte. Ein guter Deal sei noch möglich, aber sein Land werde so oder so florieren.
Auf der anderen Seite übernahm es Bundeskanzlerin Angela Merkel, eine rote Linie zu markieren: Die EU sei auch auf ein Scheitern vorbereitet,
. „Denn eins ist klar. Es muss die Integrität des Binnenmarkts gewahrt werden können“, sagte die Kanzlerin.
Tatsächlich ist der Spielraum für beide Seiten begrenzt: Johnson sitzen die Brexit-Hardliner im Nacken, die jedes Zugeständnis als Ausverkauf britischer Interessen brandmarken. Johnsons Botschaft war deshalb schon vorher aus London überbracht worden: Er könne „nichts akzeptieren, was unsere Fähigkeiten beeinträchtigt, über unsere Gesetze oder unsere Gewässer zu bestimmen“, ließ der Premier seinen Regierungssprecher ausrichten.
Unmut im EU-Parlament: Kein Showdown wie in Hollywood
Andererseits hieß es am Abend bei EU-Diplomaten, von der Leyen wisse sehr genau, wie weit sie gehen könne – die Detailverhandlungen überlasse sie besser Chefunterhändler Michel Barnier. Von der Leyen sitzt jetzt auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Nacken. Macron fürchtet zu große Zugeständnisse der EU-Unterhändler — und zieht mit Verbündeten wie den Niederlanden, Belgien, Dänemark – rote Linien.
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Aus dem EU-Parlament, das einen Vertrag noch ratifizieren muss, kamen deutliche Unmutsäußerungen. Es brauche keinen Showdown nach Hollywoodmanier, schimpfte etwa der Chef des Handelsausschusses, Bernd Lange (SPD). Johnson solle sich einfach bewegen.
Gespräche auch im nächsten Jahr?
Ein Vertrag müsste bis zum 31. Dezember nicht nur ausgehandelt, sondern auch von den Parlamenten in Brüssel und London abgesegnet sein. Dann läuft die bisherige Brexit-Übergangsphase aus, in der Großbritannien noch an EU-Regeln gebunden ist. Das EU-Parlament hat für die Ratifizierung eine Sondersitzung für den 28. Dezember ins Auge gefasst; inzwischen mehren sich aber Stimmen, die für eine Verschiebung der Gespräche und auf jeden Fall der Ratifizierung ins nächste Jahr plädieren.
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95 Prozent des Vertrags sind zwar längst ausverhandelt, die Eckpunkte klar: Ziel ist es, dass es zwischen der EU und Großbritannien auch künftig freien Warenhandel ohne Mengenbegrenzung gibt. Trotzdem: Die Fortschritte in den offenen Punkten – Fischerei, fairer Wettbewerb, Streitregelung – reichen noch immer nicht.
Zur Jahreswende droht deshalb ohne Vertrag ein Chaos mit plötzlich eingeführten Zöllen, Staus an den Grenzen und Engpässen auf der Insel. Davor warnen längst sogar Experten der Regierung. Benzin könne ebenso knapp werden wie Lebensmittel.
Vorsichtshalber hat die britische Regierung bereits Schiffe und Flugzeug für sensible Produkte gechartert – auch zum Transport des Corona-Impfstoffes, den Biontech-Pfizer für Großbritannien in Belgien produzieren lässt. Der Chef der größten britischen Supermarktkette Tesco, John Allan, sagte, es werde zumindest in den ersten Monaten zu Engpässen bei Frischprodukten kommen. Und zu höheren Lebensmittelpreisen – französischer Käse etwa könne sich um 40 Prozent verteuern, sagte Allan voraus.
Hauptstreitpunkt: Gleiche Bedingungen für den Wettbewerb
EU-Diplomaten zeigten sich überzeugt, dass die Frage der Fischereirechte noch am einfachsten zu lösen sei. Die Fangquoten für die EU-Fischer sei am Ende ein reines Zahlenspiel. Zentrales Problem bleibt die Frage, wie weitgehend die Garantien für gleiche Wettbewerbsbedingungen reichen sollen.
Die EU fürchtet ein Standarddumping der Briten und verlangte die Einhaltung der Umwelt- und Sozialstandards und der relativ strengen Regeln für Staatsbeihilfen. Der Streit geht aber unter anderem darum, ob das Vereinigte Königreich nicht nur die geltenden Standards einhalten muss, sondern auch an jene Regeln gebunden ist, die die EU erst in Zukunft festlegt.
Wenn Großbritannien dies nicht tue, wolle die EU „automatisch das Recht, uns zu bestrafen und zurückzuschlagen“, beklagte Johnson vor seinem Abflug nach Brüssel. Das könne seine Regierung nicht akzeptieren.
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Die zähen Brexit-Verhandlungen dürften nun auch Thema beim EU-Gipfel sein, der am (heutigen) Donnerstagmittag beginnt. EU-Diplomaten versuchten zwar den Eindruck zu verbreiten, die Regierungschefs würden sich auf keinen Fall länger mit dem Thema befassen; offenbar will man Johnson nicht das Gefühl geben, die Tagesordnung des Gipfeltreffens zu bestimmen, eine persönliche Begegnung mit ihm lehnen die Regierungschefs ohnehin ab.
Aber die EU-Staaten werden jetzt wohl Druck machen, dass die Kommission Notfallmaßnahmen einleitet, die das befürchtete Chaos zur Jahreswende abmildern sollen. Dabei geht es um Fragen wie die Aufrechterhaltung des Flugverkehrs oder den Grenzschutz. In der Kommission hieß es bereits, die Notfallmaßnahmen würden jetzt „sehr bald“ beginnen.