Berlin. Krisen bergen für Politiker die Gefahr des Scheiterns, Angela Merkel haben sie stärker gemacht. Nie war die Kanzlerin klarer als jetzt.

Das Wort Krise setzt sich im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammen – das eine bedeutet Gefahr und das andere Gelegenheit. Diese Weisheit hätte auch das Motto des Auftritts von Angela Merkel im Bundestag am Mittwoch sein können – und zwar in doppelter Hinsicht.

Zum einen trat die Kanzlerin mit der Botschaft an, dass diese Krise zweierlei mit sich gebracht hat: Eine große Gefahr, die noch nicht besiegt ist und derzeit täglich mehr als 500 Menschenleben in Deutschland kostet. Aber auch die Gelegenheit, uns selbst als Gemeinschaft zu erleben, die sich mit unglaublicher Kraft und Solidarität dieser Gefahr entgegenstemmt. Merkel machte dies noch einmal deutlich, indem sie betonte, dass der Schlüssel zu einer erfolgreichen Bekämpfung der Pandemie am Ende nicht Verbote seien, sondern das eigenverantwortliche Handeln der Menschen.

Zum anderen beschreibt das Motto vom doppelten Gesicht der Krise recht treffend die Entwicklung der Politikerin Angela Merkel selbst. Sie ist in der Rolle ihres Lebens angekommen. Viele Jahre wirkte ihre Politik beliebig und flexibel. Mal rückte sie ihre Partei nach links, um der SPD keinerlei Raum zu geben, dann wieder versuchte sie, das konservative Profil zu schärfen. Keine Position schien ihr wichtig genug, um nicht am Ende doch noch geräumt werden zu können. Das hat sich seit der Flüchtlingskrise geändert.

Regierungschefs werden in der Corona-Krise mit demselben Maß gemessen

Krisen bergen für Politiker immer die Gefahr des großen Scheiterns. Die Pandemie ist dabei ein Gleichmacher. Wurden die Staats- und Regierungschefs zuvor daran gemessen, wie sie die jeweiligen teils sehr unterschiedlichen Probleme ihres Landes lösten, so gilt seit Monaten für fast alle nur noch ein Maßstab: Wie hast du dein Land durch die Corona-Zeit gebracht?

Politik-Korrespondentin Miriam Hollstein kommentiert das Auftreten Angela Merkels in der Corona-Krise.
Politik-Korrespondentin Miriam Hollstein kommentiert das Auftreten Angela Merkels in der Corona-Krise. © David Hollstein | David Hollstein

Für eine abschließende Bilanz ist es noch zu früh. Aber der Zwischenstand zeigt: Die Bewertung fällt sehr unterschiedlich aus. Donald Trump hat die Pandemie (und sein Umgang damit) die Wiederwahl gekostet. Aber auch andere Staats- und Regierungschefs wie der französische Präsident Emmanuel Macron oder der britische Premier Boris Johnson haben einen großen politischen Dämpfer erlitten. Lesen Sie dazu:Donald Trump teilt gegen deutsche Pandemie-Politik aus

Bei Merkel ist das Gegenteil der Fall. Die Pandemie hat sie stärker gemacht. Nie war sie klarer, entschiedener und auch emotionaler als jetzt. Selten hat man die Frau, der Pathos grundsätzlich zuwider ist, so eindringlich appellieren gesehen.

Nie wurde sie ihrem Spitznamen „Mutti“, den manche für sie spöttisch, viele aber auch anerkennend-respektvoll verwenden, mehr gerecht: Sie mahnt, bittet, versucht zu ermutigen. Dabei bleibt sie unbeirrt auf jenem Kurs, von dessen Richtigkeit sie zutiefst überzeugt ist.

Angela Merkels rhetorische Waffe sind Fakten

Man kann diesen für falsch halten – was die Mehrheit der Bevölkerung derzeit nicht tut, wie die Umfragen zeigen. Man kann dies auch als politischen Starrsinn interpretieren. Aber eines kann man sicher nicht: Merkel unterstellen, dass ihr die Bürger im Laufe ihrer langen Kanzlerschaft egal geworden wären. Wer dies tut, der sollte noch einmal die Rede vom Mittwoch nachhören. Da stand keine abgebrühte Kanzlerin, die nur noch den nahen Ruhestand im Blick hat. Sondern eine Regierungschefin, die um ihr Land und seine Menschen bangt.

Angela Merkels rhetorische Waffe sind dabei die Fakten. Die promovierte Physikerin übersetzt die Gefahr der Krise nicht in große apokalyptische Szenarien, sondern in nüchterne Zahlen. Mit ihrer Prognose im September, die Zahl der Infektionen könne sich auf fast 20.000 täglich steigern, hat sie richtig gelegen. Wir sollten deshalb auf ihre Mahnung hören.