Berlin. Deutschland startet in eine sensible Phase der Pandemie. Die Regierung muss ihren Masterplan für Impfungen transparent verhandeln.
Dieses ätzende Jahr scheint mit einem Hoffnungsschimmer zu Ende zu gehen. Die ersten Corona-Impfungen stehen bevor, die Briten preschen voran. Auf der Insel sollen in den nächsten Tagen bereits die ersten 800.000 Dosen des Biontech-Impfstoffes in Kliniken und Pflegeeinrichtungen verabreicht werden. Der Rest der EU-Länder und Deutschland werden bald folgen.
Selbst die vorsichtige Kanzlerin Angela Merkel spricht vom Licht am Ende des Tunnels und einem schrittweisen Sieg über das Virus. Gleichzeitig kommen Staat und Gesellschaft mit der bevorstehenden Massenimpfung in eine sehr sensible Phase der Pandemie.
Wer wird zuerst geimpft? Bekommen Geimpfte schneller mehr Freiheiten zurück als nicht Geimpfte? Darf ein Impfling im Billigflieger ohne Maske in den Osterurlaub düsen, während der Impfmuffel weiter die eigenen vier Wände anstarren muss? Dürfen Arbeitgeber Druck auf Beschäftigte ausüben und ihnen den Zutritt zum Büro verweigern, falls sie keinen Impfnachweis vorlegen können?
Bundesregierung muss mit Aufklärung und Argumenten arbeiten
Von der Regierung hat man auf diese Fragen noch keine ausreichend klaren Antworten erhalten. Das muss sehr schnell nachgeholt werden. Gesundheitsminister Jens Spahn liebäugelte im Frühjahr mit einem Immunitätsausweis. Nach öffentlichen Protesten ließ er davon ab. Dabei muss es bleiben. Menschen, die eine Impfung ablehnen, Angst vor Nebenwirkungen haben oder erst einmal die Erfahrungen mit den neuen Impfstoffen beobachten wollen, dürfen nicht an den Pranger gestellt oder unter Druck gesetzt werden. Es darf keinerlei Stigmatisierung geben. Aufklärung und Argumentation sind das Gebot der Stunde.
Einen gesetzlichen Impfzwang hat die Regierung frühzeitig ausgeschlossen. Das war ein wichtiges Signal. Grundsätzlich darf man den strengen europäischen Zulassungsbehörden vertrauen, dass die in Rekordzeit entwickelten Impfstoffe sicher sind.
Doch Langzeiterfahrungen mit den Vakzinen fehlen natürlich noch. Außerdem schützen die neuen Impfstoffe zwar mit imponierenden Wirkungsgraden von bis zu 95 Prozent vor schweren Covid-19-Krankheitsverläufen. Sie verhindern aber wohl nicht eine Infektion und die Ansteckung anderer. So darf aus dem Impf-Optimismus keine verfrühte Sorglosigkeit werden.
In einer ersten Impfrunde sollen Hochbetagte, Menschen mit schweren Vorerkrankungen sowie Klinik- und Pflegepersonal geimpft werden. Die Schwächsten der Gesellschaft und diejenigen zu schützen, die sie aufopferungsvoll durch diese Pandemie begleiten, muss höchste Priorität haben. Aber wer kommt danach?
Impf-Masterplan muss breit im Bundestag diskutiert werden
Wissenschaftler haben der Regierung empfohlen, sich auf Lehrer, Erzieher, Polizisten, Feuerwehrleute und Mitarbeiter der Gesundheitsämter zu konzentrieren. Berufsgruppen, die den Laden am Laufen halten. Was ist jedoch mit Kassiererinnen im Supermarkt? Busfahrern? Spahn sagt schon Verteilungskonflikte voraus und redet von Polizeischutz für Impfzentren. Eine weniger martialische Ausdrucksweise des zuständigen Ministers wäre angebracht.
Die Politiker haben es selbst in der Hand, dass solche Zustände bei der Massenimpfung eben nicht auftreten. Man kann der Regierung nur dringend empfehlen, ihren Impf-Masterplan nicht in eine schnöde Rechtsverordnung zu packen und die Interpretation strittiger Punkte dann Gerichten und Ärzteschaft zu überlassen. Alle Schritte müssen breit im Bundestag diskutiert werden. Denn zu den Risiken und Nebenwirkungen im Umgang mit der Jahrhundertpandemie gehört auch die Akzeptanz der Demokratie.