Berlin. Familienministerin Franziska Giffey spricht im Interview über ihre Sorgen in der Corona-Pandemie – und ihre SPD-Spitzenkandidatur.

Franziska Giffey bringt eine gute Corona-Nachricht mit: In mehr als 90 Prozent der Kindertagesstätten läuft der Betrieb. Und wenn es zu einem Ausbruch kommt, geht er nicht auf die Kinder zurück. Größere Sorgen bereiten der Bundesfamilienministerin die Pflegeheime, gerade an Weihnachten. An ihrer Spitzenkandidatur für die Berliner SPD will die frischgebackene Landesvorsitzende festhalten - ganz gleich, wie die Freie Universität über ihre Doktorarbeit urteilt.

Frau Giffey, Sie führen Ihren Doktortitel nicht mehr, weil die Freie Universität Berlin das Plagiatsverfahren neu aufrollt. Wie geht es Ihnen damit?

Franziska Giffey: Es geht mir gut. Es ist ja mittlerweile die dritte Prüfung meiner Doktorarbeit. Es gab das eigentliche Promotionsverfahren, zehn Jahre später dann die Überprüfung durch ein eigens eingesetztes Gremium der Freien Universität. Das Präsidium der FU hat bestätigt, dass nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden kann, dass es sich bei der Dissertation um eine eigenständige wissenschaftliche Leistung handelt. Deshalb wurde der Titel auch nicht aberkannt. Auf dieses Ergebnis vom Oktober 2019 habe ich vertraut. Und jetzt kommen zwei Gutachten – das eine von der AfD, das andere von der CDU beauftragt - und führen dazu, dass ein abgeschlossener Fall noch einmal neu aufgerollt wird. So etwas hat es meines Wissens in Deutschland noch nicht gegeben.

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Sie vermuten eine Kampagne.

Giffey: Ich gehe selbstverständlich davon aus, dass meine Universität meine Arbeit sachlich und kompetent prüft und bewertet. Ich will aber nicht, dass meine Doktorarbeit weiter zum Gegenstand einer politischen Auseinandersetzung gemacht wird. Deshalb habe ich erklärt, den Titel nicht mehr zu führen.

Eigentlich wollten Sie als Ministerin zurücktreten, wenn Sie den Titel los sind.

Giffey: Alles, was es jetzt zu diesem Thema zu sagen gibt, habe ich erklärt.

Es ist möglich, dass die Universität Ihnen den Doktortitel offiziell aberkennt. Halten Sie sich einen Rücktritt offen?

Giffey: Ich habe gesagt, egal, was passiert, die SPD Berlin und die Berlinerinnen und Berliner können sich auf mich verlassen. Der Landesparteitag hat mich am vorigen Freitag mit 89,4 Prozent der Stimmen zur Berliner SPD-Vorsitzenden gewählt. Und der Landesvorstand hat mich einstimmig als Spitzenkandidatin für die Wahl zum Abgeordnetenhaus nominiert. Das ist eine gute Grundlage und echter Rückenwind für alles, was kommt.

Bis auf weiteres gehören Sie der Bundesregierung an. Wie feiert die Familienministerin in der Corona-Pandemie das Fest der Familie?

Giffey: Wir werden im kleinsten Familienkreis feiern. Das ist vernünftig, und es ist wichtig, dass viele andere in Deutschland das auch so machen – so schwer es fällt. Ich hätte mir auch gewünscht, ein paar alte Freunde wiederzusehen. Aber das geht dieses Jahr eben nicht. Wir sollten uns auf die Zeit freuen, die danach kommt. Kontakt halten kann man ja trotzdem - digital, per Telefon oder vielleicht auch mit einer schönen, handgeschriebenen Weihnachtskarte.

„Wir sollten uns auf die Zeit freuen, die nach Corona kommt“: Franziska Giffey (SPD) im Familienministerium
„Wir sollten uns auf die Zeit freuen, die nach Corona kommt“: Franziska Giffey (SPD) im Familienministerium © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Bund und Länder haben sich darauf verständigt, die Corona-Schutzmaßnahmen an Weihnachten und Silvester wieder zu lockern. Ist das zu verantworten?

Giffey: Ja, wenn wir die Balance halten. Einerseits sollte der Staat nicht zu sehr in ein familiäres Fest reinreden. Andererseits ist es dem Coronavirus herzlich egal, ob Weihnachten ist oder Silvester. Es ist jetzt entscheidend, dass wir die Verbreitung des Virus eindämmen. Das dürfen wir nicht vergessen. Deshalb bleibt trotz der grundsätzlich erlaubten Lockerungen der Appell an die Eigenverantwortung jedes einzelnen. Wer Oma und Opa besuchen will, sollte sich gut überlegen, was er in der Woche davor macht. Und jeder sollte daran denken, dass es sehr viele Menschen gibt, die Weihnachten gar nicht mehr erleben. Wir nehmen das immer so hin, diese Meldungen von Corona-Toten. Aber es muss auch darüber gesprochen werden, welches Leid das für diese Familien bedeutet.

Auf was für ein Weihnachtsfest müssen sich Menschen in Alten- und Pflegeheimen einstellen?

Giffey: Wir dürfen nicht noch einmal in eine Situation kommen, wie wir sie im Frühling hatten: Menschen, die sozial isoliert sind, die alleine sterben, weil sie nicht besucht werden dürfen. Wir müssen verhindern, dass Menschen vereinsamen. Eine große Erleichterung bringen die Schnelltests. Sie ermöglichen, dass Besucher zu ihren Verwandten kommen können, ohne sie in Gefahr zu bringen. Wir können sehr dankbar sein, dass es dieses Mittel jetzt gibt. Das ist anders als im Frühjahr. Und der Zeitaufwand für das Testen zahlt sich am Ende aus.

Trotzdem kommt es immer noch vor, dass Menschen ohne ihre Angehörigen sterben - auf Covid-Stationen in Krankenhäusern, aber auch in Pflegeheimen.

Giffey: Es muss alles unternommen werden, damit Besuche in Pflegeheimen möglich bleiben. Für Menschen mit Demenz ist es besonders wichtig, einen regelmäßigen Kontakt zu haben und nicht zu vereinsamen. Es gibt aber nach wie vor Situationen, da geht es einfach nicht. Wenn es ein akutes Ausbruchsgeschehen in einer Einrichtung gibt, kann man nicht noch Besucher reinlassen.

Müssen wir uns damit abfinden, dass Heimbewohner in der Pandemie alleine sterben?

Giffey: Nein. Das eine ist der Besuch, das andere ist die Sterbebegleitung. Wir sollten es in jedem Fall ermöglichen, dass Menschen, die im Sterben liegen, nicht alleine sind und dass Angehörige Abschied nehmen können.

Wie geht es nach der Weihnachtspause in den Kitas weiter? Bleiben sie in jedem Fall geöffnet?

Giffey: Das hängt von der weiteren Entwicklung ab. Wir haben in Deutschland mehr als 56.000 Kitas – 13.000 von ihnen machen bei unserem Kita-Register mit und 7000 melden regelmäßig Corona-Zahlen und Details über die jeweilige Situation und Schutzmaßnahmen vor Ort, die das Deutsche Jugendinstitut und das Robert Koch-Institut fortlaufend auswerten. Nach den aktuellsten Zahlen waren lediglich 6,3 Prozent der Kitas aufgrund von Infektionen ganz oder teilweise geschlossen, das heißt: In den anderen mehr als 90 Prozent lief der Betrieb. Und das zeigt doch: Es war richtig, dass wir darauf gesetzt haben, Kitas offenzuhalten. Kitas sind keine Infektionstreiber.

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Welches gesicherte Wissen haben Sie über das Infektionsgeschehen an den Kitas?

Giffey: Ich kann Ihnen den aktuellen Stand der Corona-Kita-Studie nennen. Die Gruppe der Null- bis Fünfjährigen infiziert sich nach wie vor am seltensten mit dem Coronavirus. Die Zahl der Neuinfektionen liegt hier im bundesweiten Durchschnitt bei 59 pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen. Bei den Sechs- bis Zehnjährigen liegt die Inzidenz derzeit im Schnitt bei 105. In beiden Gruppen ist die Tendenz rückläufig. Wenn es zu Corona-Ausbrüchen in Kitas kommt, gehen diese meist auf Erwachsene zurück, die sich dort aufhalten, also auch Eltern, Hilfskräfte, Erzieherinnen und Erzieher...

… die jetzt die Möglichkeit bekommen, sich selbst zu testen.

Giffey: Das anlasslose Testen gibt Sicherheit. Deswegen ist es gut, wenn es die Möglichkeit für Erzieherinnen und Erzieher gibt, regelmäßig einen Schnelltest zu machen. Das ist ein wichtiger Baustein bei der Eindämmung der Pandemie und auch für den Arbeits- und Gesundheitsschutz.

Sollten Erzieher zu den ersten gehören, die geimpft werden?

Giffey: Ich finde ja. Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung sollten als eine der ersten Gruppen die Möglichkeit zur Impfung bekommen. In diesem Arbeitsfeld kann sich das Personal am wenigsten schützen. Sie tragen ja meist auch keinen Mundschutz, weil die Mimik im Umgang mit Kleinkindern so wichtig ist. Auch Lehrerinnen und Lehrer sollten zu den ersten gehören, die sich impfen lassen können.

Der erste Lockdown – mit Schul- und Kitaschließungen – hat zu einer Zunahme von Gewalt in den Familien geführt. Läuft das jetzt besser?

Giffey: Es gibt dazu bislang keine belastbaren Erkenntnisse. Unser Hilfetelefon gegen Gewalt an Frauen kann aber ein Indikator sein. Da sind die Zahlen in der Zeit des ersten Lockdowns hochgegangen um etwa 25 Prozent gegenüber 2019 – auffällig war es an den Osterfeiertagen. Ich fürchte, an Weihnachten erleben wir das wieder. Das kennen wir auch aus anderen Jahren: An Feiertagen gibt es mehr Anrufe. Zurzeit sind es bis zu 480 Beratungen in der Woche zu häuslicher Gewalt – das ist etwas weniger als im Frühling. Ich gehe allerdings davon aus, dass wir ein deutlich größeres Dunkelfeld haben. Wir informieren mit viel Aufwand und Einsatz über das Hilfetelefon und andere Hilfsangebote, aber verhindern können wir häusliche Gewalt damit leider nicht.