An Rhein und Ruhr. Tausende Osteuropäer schuften im Grenzraum unter prekären Bedingungen und leben in miesen Unterkünften. Jetzt nimmt sich die Politik ihrer an.
Ein bulliger Kerl baut sich drohend vor einem schmalen, jungen Mann auf, der in einem Plastikstuhl sitzt. „You make joke with me?“, schnauzt er ihn an, dann schlägt er ihn mit der Faust hart ins Gesicht. Der junge Mann versucht sein Gesicht zu schützen, wimmert, der andere schlägt immer wieder zu. Ein Video von diesem Vorfall kursiert seit Anfang November im Netz, und es leuchtet einmal mehr die oft prekäre Situation osteuropäischer Leiharbeiter grell aus. Die nordrhein-westfälische und die niederländische Politik haben nun gemeinsam Maßnahmen beschlossen, um die Lage dieser Menschen zu verbessern.
Der bullige Kerl in dem Video sei der Sohn von Askin Reyhan, der junge Mann ein aus Rumänien stammender Arbeitsmigrant, berichtet die niederländische Zeitung „De Gelderlander“. Reyhan ist Eigentümer eines gleichnamigen Uitzendbureaus, das sind niederländische Agenturen, die Leiharbeiter vermitteln. Einige wie Reyhan haben sich auf die Vermittlung osteuropäischer Leiharbeiter spezialisiert. Reyhan ist mit derzeit rund 1400 Beschäftigten ein Riese in der Branche.
Reyhan: Wir verurteilen Gewalt
Der Vorfall habe, anders als von dem betroffenen Leiharbeiter in einer rumänischen Zeitung berichtet, einen privaten Hintergrund gehabt, beteuert ein Unternehmenssprecher auf Anfrage der NRZ: Aufgrund des laufenden Verfahrens in den Niederlanden könne man keine näheren Details nennen, jedoch stehe der Vorfall in „keinem Zusammenhang mit Reyhan Uitzendbureau BV“.
Zugleich betont der Sprecher: „Wir verurteilen jede Form der Gewalt, die auf dem Video handelnde Person steht in keinen Arbeitsverhältnis mit uns.“ Gewalt scheint dennoch in der Leiharbeitsbranche keine Seltenheit zu sein. Immer wieder erwähnen Leiharbeiter in Gesprächen, dass der Umgang auch von Mitarbeitern anderer Unternehmen mit ihnen sehr robust sei, auch von Schlägen ist die Rede.
Vermietung von Häusern: Ein lukratives Geschäft
Cornel Popescu, ein junger Mann Mitte zwanzig, der seit mehreren Jahren für Reyhan arbeitet und in einem niederländischen Schlachthof schuftet, kennt das Video, er zuckt mit den Schultern: „Ist normal.“ Cornel Popescu ist nicht der richtige Name des Rumänen, er will ihn nicht in der Zeitung lesen, weil er Angst vor Konsequenzen hat.
Popesco wohnt in einer Unterkunft in Goch. Dort und in etlichen anderen grenznahen Kommunen haben niederländische Arbeitsagenturen in den vergangenen drei Jahren Dutzende Häuser und Wohnungen gekauft oder angemietet, um in ihnen Leiharbeiter unterzubringen, die jenseits der Grenze meistens in Schlachthöfen arbeiten. Ein lukratives Geschäft: Die häufig heruntergekommenen Immobilien werden häufig mit mehreren Leiharbeitern pro Zimmer belegt, die aber pro Schlafplatz mehrere hundert Euro von ihrem spärlichen Lohn abgeben müssen.
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Schon seit geraumer Zeit gibt es deswegen Probleme. Das Leben zwischen der harten Arbeit auf den Schlachthöfen und der Tristesse in den Unterkünften lässt manchen Leiharbeiter zur Flasche greifen. Anwohner beschweren sich über Lärm, immer wieder kommt es in den überbelegten Unterkünften zu Gewaltausbrüchen. Im Mai 2018 verletzt ein junger Rumäne in Kranenburg zwei Landsleute mit einem Messer schwer und begeht daraufhin Suizid. Ebenfalls in Kranenburg verletzt im Februar 2019 ein Pole einen Landsmann lebensgefährlich. Erst am vergangenen Wochenende wird in einer Unterkunft in Emmerich ein Mann aus Polen mit schweren Verletzungen in seiner Unterkunft aufgefunden, er stirbt wenig später im Krankenhaus.
Mit der Corona-Krise kommt die Wende
Bis zum Ausbruch der Corona-Krise gab es zudem wenig Abstimmung zwischen den deutschen und den niederländischen Behörden, die Bürgermeister der betroffenen Städte wussten häufig nicht, wie viele Leiharbeiter überhaupt bei ihnen leben und fühlten sich im Stich gelassen. Das änderte sich als es ab Mai die ersten Corona-Ausbrüche in deutschen und niederländischen Schlachthöfen gab.
In der Folge wurden auch die Unterkünfte in den grenznahen Kommunen unter die Lupe genommen. Gefunden wurden teils „erhebliche Mängel“ . In Goch, wo 160 Leiharbeiter gemeldet waren, wurden über 500 Menschen in den Unterkünften angetroffen. Etliche seien positiv auf das Corona-Virus getestet worden, erinnert sich der Gocher Bürgermeister Ulrich Knickrehm.
Zusammenarbeit mit den Niederlanden intensiviert
Kein Wunder: Über lange Zeit wurden die Leiharbeiter in kleinen Bussen ohne irgendwelchen Schutz zur Arbeit gekarrt, noch heute, sagt Cornel Popescu, würden neu aus Osteuropa ankommende Leiharbeiter ohne jeden Corona-Test in Unterkünfte gebracht, die schon in Teilen belegt seien. Auch das weist Reyhan zurück: „Auf der Grundlage der Corona Bestimmungen in Deutschland und den Niederlanden, werden Mitarbeiter nach einem vorgeschriebenen Prozedere getestet. Abweichende Handhabungen sind uns nicht bekannt. Wir halten uns an die gültigen Richtlinien.“
Nach den Kontrollen im Mai und Juni wurde die Zusammenarbeit zur Bekämpfung der Missstände zwischen NRW und den Niederlanden deutlich intensiviert. „Landesgrenzen dürfen kein Hindernis sein, um gemeinsam gegen schwierige Wohn- und Lebensverhältnisse für in Deutschland lebende Beschäftigte in der Grenzregion von Deutschland zu den Niederlanden vorgehen zu können“, heißt es aus der Staatskanzlei.
Keine Umwandlung von Häusern in Unterkünfte
Im Rahmen der jüngsten Regierungskonsultationen haben sich jetzt Landesbauministerin Ina Scharrenbach (CDU), Landesarbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) und Wouter Koolmees, der niederländische Minister für Soziales und Arbeit in einem digitalen Ressortgespräch darüber ausgetauscht, wie die Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeitsmigranten in der Grenzregion und die Unterstützung der betroffenen Kommunen verbessert werden kann.
Scharrenbach bekräftigt, dass die länderübergreifende Kooperation erfolgreich laufe. So sei nun etwa über einen Erlass geregelt, „dass bestehende Wohnräume und Wohngebäude nicht mehr einfach in Unterkünfte für viele Beschäftigte umgewandelt werden dürfen“. Zugleich sei in diesem Erlass geregelt, wie in solchen Gemeinschaftsunterkünften gesunde Wohnverhältnisse garantiert werden können.
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Auch Laumann lobt die grenzüberschreitende Zusammenarbeit: „Konkret planen wir derzeit bei der Überwachung des Arbeitsschutzes gemeinsame Aktionen in Unternehmen der Fleischindustrie, dem Baugewerbe oder bei Paket-Verteilzentren durchzuführen, die auf beiden Seiten der Grenze zwischen den Niederlanden und Nordrhein-Westfalen tätig sind.“
Frank Thon beobachtet die Situation der osteuropäischen Leiharbeiter schon seit längerem. Der für den Niederrhein zuständige Gewerkschaftssekretär des DGB begrüßt die Schritte der Politik. „Es ist positiv, dass die Problematik in den Regierungskonsultationen behandelt wurde.“ Jedoch mangele es noch immer an einem Datenaustausch über die Grenzen hinweg. Und: „Die Kommunen müssen auch umsetzen, was die Politik in die Wege geleitet hat.“
Klagen gegen Bescheide der Stadt Goch
Wie schwierig das ist, zeigt das Beispiel Goch: Zeitarbeitsfirmen wie Reyhan wehren sich gegen Maßnahmen, die ihr Geschäftsmodell in Gefahr bringen. Die Stadt Goch hat dem Unternehmen für gleich mehrere Immobilien untersagt, dort Schlafplätze an Leiharbeiter zu vermieten. Dafür müsste sich Reyhan die Erlaubnis besorgen, einen Beherbergungsbetrieb zu führen. „Eine solche Erlaubnis zu bekommen, ist schwer“, sagt Ulrich Knickrehm. Gegen sämtliche Bescheide der Stadt, es sind mehr als ein Dutzend, hat das Unternehmen geklagt. Reyhan behauptet, selbst keine Wohnungen zu vermieten, räumt aber ein, es seien aber „diverse Klagen anhängig“.
Hat sich die Situation der Leiharbeiter in den vergangenen Monaten verbessert? Cornel Popescu lächelt, wie Menschen lächeln, denen gerade eine sehr naive Frage gestellt wurde. Dann schüttelt er den Kopf. „Nein, bis jetzt nicht. Überhaupt nichts hat sich geändert.“