Berlin. Viele Gesundheitsämter arbeiten bei der Pandemiebekämpfung immer noch ineffizient. Das müssten sie nicht, wie unsere Recherche zeigt.
- Viele Gesundheitsämter arbeiten seit Anfang der Pandemie mit Zetteln, Excel-Tabellen und Fax
- Die Kontaktnachverfolgung könnte deutlich schneller erfolgen: Schon im Frühjahr gab es eine Software, die speziell auf Corona zugeschnitten war und Ämter stark entlasten könnte
- Erst jetzt haben Bund und Länder einen bundesweiten Einsatz des Programms beschlossen. Warum?
Mitte November sitzt Gesundheitsminister Jens Spahn im Studio der Veranstaltung „Dialog ÖGD Digital”, in der es um Software für den Kampf der Gesundheitsämter gegen die Corona-Pandemie geht. Als die Moderatorin das Gespräch auf ein Programm namens „Sormas” lenkt, kommt der Minister ins Schwärmen: Er erzählt von einer Reise nach Nigeria, als er das Center of Disease Control (CDC) besuchte, sozusagen das nigerianische Robert Koch-Institut . Spahn berichtet von Bildschirmen im Lageraum des CDC, die das Geschehen von verschiedenen Infektionskrankheiten im Land zeigten.
Stolz eröffneten ihm die Mitarbeiter damals, dass es sich um eine Software aus Deutschland handelte. Eben dieses Sormas. „Und dann dachte ich mir, das kann doch gar nicht sein, dass ihr mit digitalen Tools aus Deutschland mehr könnt, als wir selbst in Deutschland konnten zu dem Zeitpunkt – oder auch können wollten zu dem Zeitpunkt”, sagt Spahn.
Die Szene aus Nigeria spielte sich im Oktober 2019 ab. Damals wollte man in Deutschland nicht mehr können. Pandemiebekämpfung, ein tödliches Virus? Das schien damals hierzulande noch undenkbar. Oder zumindest nicht so wichtig, als dass es Priorität gehabt hätte. Heute will man mehr in Deutschland können. Mann kann es aber nicht.
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Corona-Software in Gesundheitsämtern: Seit Frühjahr steht „Sormas“ bereit
Dabei ist eine Lösung seit dem Frühjahr naheliegend. Sormas steht für „Surveillance Outbreak Response Management Analytics System“. Die Software soll es erleichtern, Kontakte nachzuverfolgen, Symptome zu dokumentieren und diese Daten über Landkreisgrenzen hinweg zu teilen. Der Alltag in vielen Gesundheitsämtern sieht hingegen so aus, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch mit Excel-Listen arbeiten. Oder mit Software, die nur in ihrem Landkreis funktioniert.
Wenn eine positiv getestete Person nicht in die Zuständigkeit des Amts fällt, müssen die zuständigen Sachbearbeiter die lokale Behörde heraussuchen und sie informieren – meist mit einer kuriosen Mischung aus Dateiversand, Telefonaten und Faxen. So können Tage vergehen, bis Kontakte von Corona-Infizierten erfasst und betreut werden. Tage, in denen sich das Virus weiter ausbreiten kann. Der digitale Pandemie-Manager Sormas, den das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung im Jahr 2014 für den Kampf gegen Ebola in Westafrika entwickelt hat, soll das nun ändern.
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Auf Drängen der Bundesregierung haben sich Bund und Länder das Ziel gesetzt, dass die rund 380 Gesundheitsämter bis Ende des Jahres eine Nutzerrate der Software von 90 Prozent erreichen. Derzeit ist das Programm laut Bundeskanzleramt bei 71 Gesundheitsämtern eingerichtet – also nicht mal in jedem fünften Amt. Warum? Zumal die Schweiz und auch Frankreich das Programm aus Deutschland innerhalb der Mehrzahl der Kantone bzw. Regionen innerhalb kurzer Zeit ausgerollt haben und erfolgreich einsetzen.
Die Antwort fällt ernüchternd aus. „Bislang gab es noch eine praktische Hürde, die viele Ämter davon abhielt, die Software in ihrer derzeitigen Version einzusetzen”, sagt Ute Teichert, die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Das hat einen IT-Hintergrund: Während Sormas das Management von Kontakten, Clustern und Symptomen übernimmt, arbeiten alle Gesundheitsämter mit einer speziellen Meldesoftware des Robert Koch-Instituts. Anonymisiert schicken sie die Fallzahlen zum Beispiel mit dem Programm SurvNet an die Landesmeldestellen, die sie wiederum ans RKI weiterleiten.
„Sormas und diese Meldesoftware arbeiten nicht zusammen. Die Programme funktionieren bislang nur getrennt voneinander. Mitarbeiter müssen Daten daher doppelt eintragen, wenn sie Sormas benutzen”, sagt BVÖGD-Chefin Teichert. Es fehle eine Schnittstelle, die schon seit Sommer angekündigt sei.
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„Viele Software-Lösungen aus der Not heraus geboren“
Schnittstellen ermöglichen die Kommunikation zwischen Software, ohne sie sprechen die Programme sozusagen unterschiedliche Sprachen. Erschwerend kommt in den Gesundheitsämtern hinzu, dass sich viele lokale Behörden im Sommer bereits eigene Softwarelösungen entwickeln ließen, die aber nicht miteinander vernetzt sind. Es ist daher nicht möglich, Daten mit anderen Landkreisen auszutauschen. In den Gesundheitsämtern Deutschlands herrscht eine Art babylonisches Sprachgewirr.
„Viele Software-Lösungen sind im Sommer aus der Not heraus geboren, weil es keine klare Ansage gegeben hat“, sagt Teichert. Die Ämter handelten also auf eigene Faust, weil die große Strategie fehlte.
Eine Kritik, die viele Gesundheitsämter teilen. Dr. Anja Hauri, Leiterin des Fachdienstes Hygiene im Gesundheitsamt in Gießen, ergriff schon im Februar selbst die Initiative. Das Helmholtz-Zentrum schickte ihrem Amt eine E-Mail, in dem es auf die kostenlose Software Sormas hinwies. „Ich dachte sofort, dass es die beste Lösung ist, weil es schon seit Jahren gegen Infektionskrankheiten in anderen Ländern erfolgreich eingesetzt wird und daher einen Entwicklungsvorsprung gegenüber anderen Programmen hat“, sagt Hauri. Es habe auf dem Markt kein anderes Programm gegeben, das schon fertig entwickelt war.
Gesundheitsministerium verweist auf Bundesländer
Auch das Gesundheitsamt im Landkreis Gießen muss Fälle noch doppelt eintragen: einerseits in Sormas, andererseits in das RKI-Meldesystem SurvNet. Weil kaum Ämter in Hessen das Programm bislang nutzen, funktioniert das schnelle Teilen der Daten über Kreisgrenze hinweg nicht.
Doch es gibt Grund zur Hoffnung: Das Gesundheitsamt Gießen ist eines von fünf deutschlandweit, das nun an einem Pilotprojekt teilnimmt. Es testet eine Schnittstelle, die die Programme endlich verbinden soll, erklärt Hauri. Das würde vieles erleichtern. „Eigentlich waren wir der Hoffnung, dass diese Funktion zeitnäher umgesetzt wird. Es ging viel Zeit verloren, weil es keine gemeinsame Basis gegeben hat”, sagt sie. Sie hoffe nun, dass die Programme noch in diesem Jahr zusammenarbeiten können.
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Das Durcheinander an Softwarelösungen, das eine schlagkräftige Kontaktverfolgung verhindert, wirft nach Monaten der Pandemie bei aktuell rund 400 Corona-Todesfällenten am Tag die Frage nach den Ursachen auf. Spahns Ministerium verweist auf die Bundesländer. „Die Verantwortung für die Ausstattung der Gesundheitsämter und damit die Entscheidung über den Einsatz digitaler Hilfsmittel obliegt den Ländern und den Gesundheitsämtern selbst”, heißt es auf Anfrage aus dem Ministerium.
„Kontaktverfolgung und Isolation absolut zentral“
Maximilian Mayer, einer der Wissenschaftler aus der Beratergruppe des Innenministeriums im Frühjahr, kritisiert, dass es so lange gedauert hat, bis sich Bund und Länder auf eine Softwarelösung geeinigt haben – und dass diese noch nicht flächendeckend zum Einsatz kommt. „Die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen uns, dass die Kontaktnachverfolgung und Isolation absolut zentral ist”, sagt Mayer, Fachmann für globale Technologiepolitik an der Universität Bonn.
„Wir verschwenden viel zu viel Zeit darauf über die Corona-Warn-App zu sprechen, die nur eine marginale Hilfe sein kann. Viel wichtiger ist die Vernetzung zwischen den Gesundheitsämtern”, kritisiert er. Er versteht nicht, warum man nicht viel früher auf Sormas gesetzt und aktiv für die Software geworben hat. „Mir scheint, hier fehlte, wie auch beim Thema Massentestung, viel zu lange der politische Wille”, sagt Mayer.
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