Brüssel. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg über die neue US-Präsidentschaft, die Corona-Krise und einen möglichen Abzug aus Afghanistan.

Die Corona-Krise darf für die Nato keine Sicherheitskrise werden, warnt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg . Im Interview beschreibt der 61-jährige Norweger, was die Allianz von Joe Biden erwarten kann und welches Risiko die Europäer beachten müssen.

Herr Generalsekretär, die USA haben einen neuen Präsidenten gewählt. Was erwarten Sie von Joe Biden, was bedeutet seine Präsidentschaft für die Nato?

Jens Stoltenberg: Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Joe Biden. Er kennt die Nato sehr gut, mit ihm bekommen wir einen starken Unterstützer der Allianz und der Kooperation zwischen Nordamerika und Europa.

Sind Sie erleichtert? Mit Trump war es ja alles andere als leicht. Wird es jetzt besser, gibt es neues Vertrauen?

Stoltenberg: Die USA sind ein engagierter Alliierter seit mehr als 70 Jahren und ich bin absolut sicher, dass sie es bleiben werden. Natürlich hat Präsident Trump einen anderen Stil: Er hat seine Erwartungen an die Europäer, dass sie mehr in die Verteidigung investieren sollen, ziemlich klar ausgedrückt.

Aber ich bin sicher, dass der gewählte Präsident Biden die gleiche Erwartung an die europäischen Partner äußern wird. Er wird eine sehr klare Botschaft haben, dass die Europäer mehr tun müssen, da die Welt immer unsicherer wird. Die gute Nachricht ist, dass sie bereits mehr tun, seit 2014 alle Nato-Partner zugestimmt haben, dass wir die Lastenteilung verbessern und mehr in Sicherheit investieren müssen.

Trump plante die Reduzierung der US-Truppen in Europa, das heißt in Deutschland. Wird Biden dabei bleiben?

Stoltenberg: In der Zeit des Kalten Krieges hatten die USA mehrere Hunderttausend Soldaten in Europa, jetzt sind es 70.000. Das spiegelt den Wandel im Sicherheitsumfeld wider. Die USA haben ihre Truppenstärke in Europa immer wieder angepasst, und sie werden es auch künftig tun. Ich bin absolut sicher, dass die USA in Europa stark engagiert bleiben.

Sie stationieren zudem ein Raketenabwehrsystem in Rumänien, wir sehen eine stärkere maritime Präsenz und zunehmende Teilnahme an Nato-Übungen in Europa. Ich erwarte, dass Präsident Biden das fortsetzen wird.

Präsident Trump erwägt offenbar, vor dem Ende seiner Amtszeit den Iran anzugreifen. Ein richtiger Schritt – oder macht Ihnen das Sorgen?

Stoltenberg: Ein neuer Konflikt in der Region würde in niemandes Interesse sein. Darum ist es so wichtig, dass Iran auf weitere Provokationen verzichtet. Es gibt unter allen Nato-Mitgliedern Besorgnis wegen der destabilisierenden Aktivitäten des Irans im Nahen Osten – und ebenso wegen Irans Anstrengungen, in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen. Wir haben eine klare Position: Der Iran darf nicht in die Lage kommen, dass er Atomwaffen entwickeln und beschaffen kann.

Die USA ziehen womöglich noch vor Weihnachten weitere Truppen aus Afghanistan ab. Und die Nato könnte Mitte nächsten Jahres gehen. Aber die Lage in Afghanistan bleibt angespannt. Riskiert die Allianz nicht, das Land zu früh zu verlassen und den Erfolg der Mission aufs Spiel zu setzen?

Stoltenberg: Wir sind in Afghanistan, um zu verhindern, dass von dort aus Terrorangriffe gegen unsere Länder geplant und organisiert werden. Wir haben zugleich die deutlichen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte in Afghanistan unterstützt, insbesondere Frauenrechte. Ich möchte Deutschland ausdrücklich loben für seinen starken Beitrag über viele Jahre.

Wir begrüßen die direkten Gespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung und sind bereit, unsere Präsenz weiter anzupassen. Kein Nato-Alliierter wird länger als nötig dort bleiben. Aber es ist wichtig, dass wir nicht überstürzt und unkoordiniert abziehen. Der Preis für einen zu schnellen Abzug in unkoordinierter Weise könnte zu hoch sein.

Viele Tote bei Raketenangriffen auf Kabul

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    Wie stellen Sie das sicher?

    Stoltenberg: Wir als Alliierte haben Anfang nächsten Jahres eine sehr schwierige Entscheidung zu treffen, ob wir Afghanistan vor dem 1. Mai verlassen – was Teil der Vereinbarung zwischen den USA und den Taliban ist – oder ob wir bleiben.

    Wir müssen die Kosten abwägen: Wenn wir bleiben, riskieren wir natürlich, weiter in eine schwierige Militäroperation verwickelt zu bleiben. Wenn wir zu früh gehen, riskieren wir, dass Afghanistan wieder ein sicherer Hafen für internationale Terroristen wird und dass der „Islamische Staat“ versucht, sein in Syrien und Irak zerstörtes Terrorkalifat in Afghanistan wieder zu errichten.

    Das ist eine schwierige Entscheidung, die wir bei der Sitzung der Nato-Verteidigungsminister im Februar 2021 treffen müssen; es wird ein sehr wichtiges Treffen für die Nato.

    In der EU gibt es eine Debatte über die Forderung von Präsident Macron nach „strategischer Autonomie“ Europas. Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer hat klar widersprochen. Wer hat recht? Sollte Europa unabhängiger von den USA werden?

    Stoltenberg: Ich stimme zu, dass die Europäer mehr in ihre Verteidigung investieren müssen. Aber diese Anstrengungen können niemals das transatlantische Bündnis ersetzen. Tatsache ist, dass die Europäische Union nicht Europa verteidigen kann.

    Nach dem Brexit werden 80 Prozent der Verteidigungsausgaben der Nato-Staaten von Nicht-EU-Ländern aufgebracht, und nur 44 Prozent der Bevölkerung leben in der EU. Die US-Sicherheitsgarantien, die nukleare Abschreckung und die Präsenz von US-Truppen in Europa sind absolut notwendig für die Verteidigung Europas. Jeder Versuch, die Bindung zwischen Nordamerika und Europa zu schwächen, wird nicht nur die Nato schwächen – sie wird auch Europa spalten.

    Und wenn wir den Eindruck vermitteln, dass die EU allein Europa verteidigen kann, besteht ein weiteres Risiko: Politische Kräfte in den USA, die gegen Multilateralismus und die transatlantische Kooperation sind, werden dies als Entschuldigung benutzen, um ihre Zusagen an Europa zu reduzieren. Es bleibt dabei: Wir müssen zusammenarbeiten.

    Sie plädieren für steigende Anstrengungen. Aber viele Nato-Staaten kommen durch die Corona-Krise unter starken finanziellen Druck. Ist das Zwei-Prozent-Ziel überhaupt zu halten? Deutschland wird es ja 2024 ohnehin verfehlen.

    Stoltenberg: Wir haben das Zwei-Prozent-Ziel beschlossen, weil wir verstanden haben, dass wir in einer gefährlicheren Welt leben: Die Bedrohungen und Herausforderungen in Sicherheitsfragen, die es vor der Corona-Krise gegeben hat, sind während der Pandemie nicht zurückgegangen. Im Gegenteil.

    Russland rüstet militärisch weiter auf, die Terrororganisation Isis versucht wieder in Syrien und im Irak Boden zurückzugewinnen, und die globalen Machtverhältnisse verändern sich mit Chinas Aufstieg. Ich weiß als Politiker, wie schwierig es ist, in Verteidigung zu investieren. Aber wir müssen in der Lage sein, Verteidigungsausgaben zu erhöhen, wenn die Spannungen wieder zunehmen.

    Videografik- Die Miliz Islamischer Staat - Aufstieg und Fall

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      Was heißt das für die Nato?

      Stoltenberg: Die wichtigste Aufgabe der Nato ist zu verhindern, dass die Corona-Gesundheitskrise eine Sicherheitskrise wird. Deshalb müssen wir weiter mehr investieren. Es geht dabei auch um den richtigen Ansatz gegenüber Russland: Russland muss verstehen, dass es nicht gewinnen kann, wenn es die Konfrontation sucht. Ich glaube an Dialog, Zusammenarbeit und Rüstungskontrolle. Aber der einzige Weg, dies mit Russland zu erreichen, ist eine feste und berechenbare Position der Nato.