Berlin. Kanzlerin Merkel sieht „drastischen“ Anstieg der Infektionszahlen und will Länderchefs am Mittwoch auf strengere Regeln verpflichten.
Die Bilder aus Bergamo haben sich eingebrannt: kollabierende Intensivstationen, völlig erschöpfte Ärzte und Pfleger, Lastwagen mit Corona-Toten. In Deutschland halten die Kliniken dem Druck der Pandemie bislang stand – doch mit den rasant steigenden Zahlen kann sich das schnell ändern.
Wie eng wird es in den kommenden Wochen in den Kliniken? Reichen Intensivbetten und Beatmungsgeräte aus? Gibt es überhaupt genug Intensivpfleger?
Corona: Merkel will nachsteuern – und schärfere Kontaktbeschränkungen
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich am Montag alarmiert von Tempo und Wucht der zweiten Corona-Welle: Der Anstieg sei drastisch, der Anteil der Älteren unter den Infizierten nehme zu, die Kliniken verzeichneten immer mehr Covid-19-Patienten, viele müssten beatmet werden. Jeder Tag zähle jetzt, ließ Merkels Regierungssprecher Steffen Seibert ausrichten.
An diesem Mittwoch will die Kanzlerin mit den Regierungschefs der Länder im Kampf gegen Corona nachsteuern. Die bisherigen Maßnahmen reichten nicht aus, vielerorts könnten Kontaktketten nicht mehr verfolgt werden.
Merkels Credo lautet: je weniger Kontakte, desto besser. Ob sich die Länderchefs auf schärfere Kontaktbeschränkungen einigen können, ist jedoch unklar. Merkel wird in jedem Fall unmittelbar nach dem Ländergipfel die Ergebnisse im Bundestag verteidigen müssen – bei ihrer Regierungserklärung am Donnerstag im Parlament.
Wie entwickelt sich die Infektionslage?
In den meisten Städten und Landkreisen liegen die Neuinfektionen inzwischen weit über der kritischen Marke von 50 je 100.000 Einwohner in sieben Tagen. Am Montagmorgen meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) 8685 Neuinfektionen binnen eines Tages.
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Erfahrungsgemäß sind die Fallzahlen an Sonntagen und Montagen zwar niedriger, auch weil an Wochenenden weniger getestet wird. Jedoch ist die Tendenz klar: Am Montag vor einer Woche etwa waren es bundesweit noch 4325 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden. Am vergangenen Samstag war mit 14.714 Neuansteckungen sogar ein neuer Höchstwert seit Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland erreicht worden.
Zugleich überstieg die Zahl der Todesfälle am Wochenende die Marke von 10.000. Am Montag waren es 10.056 Fälle und damit 24 mehr als am Vortag. Mit 267 Verstorbenen in der vergangenen Woche war es zudem der höchste Wochenwert seit Ende Mai. Lesen Sie hier: Corona: Die vergessene Trauer um die Toten
Die Reproduktionszahl, kurz R-Wert, lag laut RKI zuletzt bei 1,45 (Vortag: 1,36). Das bedeutet, dass zehn Infizierte knapp 15 weitere Menschen anstecken. Noch sind unter den Infizierten vor allem Jüngere, das RKI warnt jedoch: „Seit Anfang September nimmt der Anteil älterer Personen unter den Covid-19-Fällen wieder zu.“
Was bedeutet das für die Kliniken?
Experten sehen die Krankenhäuser für den Moment noch gut aufgestellt. Der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Uwe Janssens, sagte unserer Redaktion, er sei trotz der „bedrohlich steigenden Infektionszahlen an Sars-CoV-2 zuversichtlich, dass wir eine zweite Welle gestemmt bekommen“. Anders als im Frühjahr sei ausreichend Ausstattung zur Behandlung der Erkrankten vorhanden.
„Viele Kliniken haben Zusatzbetten geschaffen, es gibt ausreichend Kapazitäten an freien Intensivbetten und Beatmungsgeräten“, so Janssens. Derzeit gebe es in Deutschland knapp 30.000 Intensivbetten und eine Notfallreserve von weiteren 12.000. Laut Divi sind aktuell etwa 8370 dieser Plätze frei. 1369 Patienten werden wegen Covid-19 klinisch behandelt, 625 davon werden invasiv beatmet.
Für den Fall, dass die Intensivbetten in einzelnen Regionen knapp werden, gibt es in den Ländern bereits Pläne, wie Patienten auf weniger belastete Regionen verteilt werden können. Das Innenministerium stellte am Montag zudem ein Konzept vor, wie diese Umverteilung auch bundesweit geregelt werden kann. Hintergrund: Bundesamt warnt vor Cyberangriffen auf Krankenhäuser
Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), warnt unterdessen davor, allein die Lage auf den Intensivstationen zum Kriterium für die Beherrschbarkeit der Pandemie in den Kliniken zu nehmen.
„Nicht alle Patienten, die mit einer Corona-Infektion ins Krankenhaus kommen, müssen intensivmedizinisch behandelt werden. Nur jeder Fünfte muss auf die Intensivstation“, so Gaß. Auch auf den Normalstationen bedeuteten Covid-19-Patienten eine große Herausforderung für das Personal.
Wie gefährlich ist der Mangel an Pflegekräften?
Gaß und Janssens sehen hier die zentrale Schwachstelle. Viele der verfügbaren Krankenhausbetten könnten „nicht belegt werden, weil das Personal zur Versorgung der Patienten fehlt. Das ist das viel größere Problem“, mahnt Janssens. „Die Betten alleine helfen uns nicht, wenn wir kein Personal haben, um die Patienten zu versorgen.“
Grob geschätzt fehlten bundesweit 3500 bis 4000 Fachkräfte für die Intensivpflege. DKG-Chef Gaß rechnet damit, dass wegen des Personalmangels erneut „Wartezeiten bei der Regelversorgung“ bevorstünden. Zudem werde es voraussichtlich Verlegungen von Patienten aus hoch belasteten Standorten in entferntere Krankenhäuser geben. „Ich habe leider keine optimistischere Prognose“, sagte Gaß.
Susanne Johna, Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, rechnet vor: „Pro schwer krankem Covid-Patienten auf der Intensivstation wird eigentlich eine Pflegekraft benötigt.“ Der Personalmangel trete bald massiv zutage. „Sechs bis neun Prozent der Infizierten von heute werden in zwei Wochen im Krankenhaus behandelt werden müssen“, prognostiziert Johna. Es werde darauf ankommen, „wie wir das personell schaffen“.
Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Claudia Schmidtke (CDU), appelliert derweil an Patienten mit anderen Krankheiten, sich trotz Pandemie nicht von einem Klinikbesuch abhalten zu lassen. Niemand müsse sich „Sorgen machen, in einer Notfallsituation wie bei Herzinfarkt oder Schlaganfall nicht versorgt zu werden“, sagte sie unserer Redaktion.
Wichtig sei, dass Betroffene „tatsächlich ins Krankenhaus gehen“ und nicht aus Angst vor einer Infektion auf Hilfe verzichteten.
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