Washington. In den Umfragen zur US-Wahl liegt Herausforderer Biden klar vor Präsident Trump. Der muss nun hoffen, Neuwähler mobilisieren zu können.
Es ist das Schreckensszenario schlechthin für den Mann, der seinen Anhängern vor vier Jahren in die Hand versprochen hat, dass sie bald des Siegens überdrüssig sein werden: Drei Wochen vor der Präsidentschaftswahl in Amerika sieht es mau aus für eine zweite Amtszeit Donald Trumps. Der Präsident liegt landesweit in den Umfragen im Schnitt rund zehn Prozentpunkte hinter seinem demokratischen Widersacher Joe Biden.
In den „swing states“, die traditionell mal blau (demokratisch) und mal rot (republikanisch) abstimmen, rangieren die Vorsprünge für Biden zwischen zwei und acht Prozentpunkten. Im Mittelwert des Referenzportals „Real Clear Politics“ pendeln sie sich derzeit bei 4,8 Prozentpunkten ein. Tendenz: steigend.
Trump gegen Biden: Die wichtige Währung sind Wahlmännerstimmen
Übersetzt in die eigentliche Währung der Wahl am 3. November – Wahlmännerstimmen! – sagen andere tonangebende Umfrageauswerter wie das Portal „Five Thirty Eight“ dem Demokraten im besten Fall 360 plus x von 538 „electoral votes“ voraus. 270 reichen aus für das Erringen der Präsidentschaft. Trump liegt je nach Kalkulation bei 180 bis 260 Stimmen. Lesen Sie auch: Nach Corona-Infektion: So lief Trumps Wahlkampf-Comeback
Was nicht heißt, dass Trump bereits verloren hat. 2016 gelang es dem Unternehmer, mit seiner aggressiven Anti-Establishment-Rhetorik Wähler zu mobilisieren, die den Meinungsforschern teilweise durch die Lappen gegangen waren.
US-Wahl 2020: Höhere Trefferquote der Umfragen möglich
Das Risiko, eine schweigende (oder bei Umfragen nicht die Wahrheit sagende) Mehrheit erneut nicht zu erfassen, „ist nicht völlig vom Tisch“, sagen Empiriker. Aber: Für eine höhere Trefferquote spreche diesmal etwa, dass sich nur drei Prozent der Wahlberechtigten als „unentschlossen“ bezeichnen. 2016 waren es zum gleichen Zeitpunkt rund zehn Prozent.
Die zu einem Biden-Sieg neigende Analyse der Meinungsforscher fußt auf einem Sammelsurium von Indizien, die aus den Umfragen herausgelesen werden können. Allen voran: Trump hat bei seinen Kernwählern verloren, aber aus dem Pool der Parteiunabhängigen keine „Neu-Trumpianer“ rekrutieren können.
Dazu kommt das Zustimmungsprofil Bidens. Er ist durch die Bank nicht so unbeliebt wie Hillary Clinton. Bei der früheren Außenministerin sagten 2016 über 50 Prozent: auf keinen Fall. Biden können „nur“ 31 Prozent „gar nicht leiden“.
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Für Trump geht es seit dem ersten TV-Duell bergab
Beim Amtsinhaber ist spätestens seit der von ihm durch übertriebene Aggressivität vor die Wand gefahrenen ersten TV-Debatte mit Biden vom 29. September eine Verstetigung des Abwärtstrends zu beobachten. Lesen Sie auch: Die Angst der Republikaner vor Bidens Erdrutschsieg
In zentralen Wählergruppen, die ihn 2016 mit substanziellem Vorsprung vor Hillary Clinton ausstatteten, hat Trump massiv eingebüßt. Bei Frauen hat Trump teilweise 30 Prozentpunkte und mehr verloren. Bei Senioren, wo Trump vor vier Jahren rund 55 Prozent der Stimmen einsammeln konnte, liegt er heute bei 38 Prozent.
Wähler und Wählerinnen aus den Vororten der großen Städte, die zuletzt Trump rund 50 Prozent ihrer Stimmen gaben, tendieren heute nur in einer Spannbreite zwischen 35 und 43 Prozent zugunsten des Präsidenten. In allen drei Wählersegmenten überwiegt die Missbilligung von Trumps Krisenmanagement gegen das Coronavirus, dem mittlerweile fast 220.000 Amerikaner zum Opfer gefallen sind.
Trump und Corona: Vielen Senioren ist die Hutschnur gerissen
Als Trump nach absolvierter Turboheilung in einem Militärkrankenhaus behauptete, Corona sei gut beherrschbar, sei gerade vielen Senioren die Hutschnur gerissen, erfuhren die Meinungsforscher.
Weil die Wähler – anders als Trump – nicht den Zugang zu teurer Hochleistungsmedizin und bisher nicht zugelassenen Medikamenten haben.
Weil man Leuten, die zur Hochrisikogruppe gehören und die seit Monaten ihre Enkel nicht mehr umarmen dürfen, mit rosaroten Beschreibungen der Realität nicht mehr kommen kann.
Weil Trump nicht mal seinen innersten Kreis schützen kann. Nach einer Veranstaltung im Rosengarten des Weißen Hauses, wo Ende September weder Mundschutz getragen noch ein Mindestabstand eingehalten wurde, meldete die Regierung über 20 Infektionen. Lesen Sie auch: US-Wahlkampf: Donald Trump sagt TV-Debatte mit Joe Biden ab
Trumps Versuche, die Tagesordnung zu ändern
Die Übermacht des Corona-Faktors bedeutet im Umkehrschluss, dass Trumps Versuche, die Tagesordnung zu ändern, bisher nicht gezogen haben. Weder die Fokussierung auf „law and order“ nach punktuell gewalttätigen Protesten im Zuge tödlicher Polizeibrutalität gegen ethnische Minderheiten noch die Nominierung einer erzkonservativen Juristin für den Obersten Gerichtshof haben laut den Umfragen beim Wähler verfangen.
Auch nicht die Dämonisierung Bidens und der Demokraten als „socialists“, die Amerika angeblich zum rechtsfreien Raum machen wollten.
Wunsch nach „Rückkehr zur Normalität“
Im Gegenteil: Biden hat in den vergangenen zwei Wochen querbeet zugelegt. Obwohl er in puncto Menschenkontakt und Präzision der Wahlversprechen einen sehr sparsamen Wahlkampf führt. Dem 77-Jährigen wird attestiert, Amerika besser als Trump mit einem abgestimmten Vorgehen aus der Corona-Krise führen zu können. Biden verkörpere den Wunsch nach „Rückkehr zur Normalität“, schreibt das „Wall Street Journal“.
Alles hängt wie immer davon ab, wie sich die „battleground states“ verhalten. Im Mittelpunkt stehen wieder die drei Bundesstaaten, die Trump vor vier Jahren mit hauchdünnem Vorsprung für sich entschied. Wodurch er die Präsidentschaft gewann: Pennsylvania (44.292 Stimmen), Michigan (10.704) und Wisconsin (22.748).
Zusammen ist das Trio für 46 Stimmen im „electoral college“ gut. In allen drei Bundesstaaten liegt Biden derzeit im Mittelwert mit rund sieben Prozentpunkten vorn. Lediglich das Trump zugetane Institut Rasmussen sieht Präsident und Herausforderer etwa in Pennsylvania Kopf an Kopf.
Trump könnte Hunderttausende Wähler mobilisieren
Worauf Trump setzt: dass sich Hunderttausende Wähler mobilisieren lassen, die 2016 der Wahl ferngeblieben sind. Wenn aus diesem Reservoir, das etwa in Pennsylvania mit rund zwei Millionen angegeben wird, erneut einige Zehntausend für Trump votierten, so stellt es der „Cook Political Report“ dar, könnte der Amtsinhaber abermals frohlocken.
Über den Daumen gepeilt gilt in allen Schlüsselstaaten: In Metropolen und Ballungsräumen dominiert die demokratische Gesinnung. Geht man in die Vororte oder aufs Land, wird das politische Klima entschieden „trumpischer“.
Trumps Wahlkampfkasse wird leer
Biden hat aber auch ganz neue Fronten aufgemacht. In Bundesstaaten wie Texas oder Georgia, wo es für die Demokraten seit Jahrzehnten nicht viel zu gewinnen gab, liegt er gleichauf mit Trump oder sogar vor ihm. In Arizona führt Biden klar. Auch in Ohio und Iowa liegt er vorn oder Kopf an Kopf. Weil Trumps Wahlkampfkasse im Gegensatz zu Bidens knapp wird, hat der Präsident die TV-Werbung in beiden Bundesstaaten nahezu eingestellt. Lesen Sie auch: TV-Duell Pence – Harris: So schlugen sich die Vizekandidaten
Würde Biden Texas gewinnen (38 Wahlmänner), wo sich seit 2016 rund 1,6 Millionen Neuwähler unter 35 Jahren mit Affinität zu den Demokraten registrieren ließen, könnte er sich andernorts Niederlagen erlauben.
Mit Spannung wird wie immer Florida beobachtet, wo mit 26 „Elektoren“ ein wichtiges Kontingent zu verteilen ist. Hier liegt Biden im Mittelwert der von „Five Thirty Eight“ beobachteten Umfragen mit 4,5 Prozentpunkten vorn. Ohne Florida, offiziell erster Wohnsitz des New Yorkers Trump, stehen dessen Chancen mäßig.
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