Eriwan. Zwischen Aserbaidschan und Armenien kommt es seit Tagen zu heftigen Kämpfen. Reporter Jan Jessen berichtet aus der armenischen Hauptstadt Eriwan.

In der prächtigen Lobby des Marriott-Hotels am Platz der Republik in Eriwan steht ein kleiner Junge, schwarze Hose, weißes Hemd und Fliege, er singt mit einer engelsgleichen Stimme ein Lied, das von Kampf, Sieg und der Heimat handelt, ihm hören Dutzende Frauen und Kinder zu. In ihren Gesichtern spiegelt sich wenig patriotische Entschlossenheit. Sie wirken bedrückt und unsicher. Das monumentale Tuffsteingebäude ist für sie eine Zuflucht, ihre Brüder, Söhne und Männer stehen 300 Kilometer weiter östlich an der Front in Bergkarabach.

Seit dem 27. September ist der seit drei Jahrzehnten schwelende Konflikt um Bergkarabach im Südkaukasus erneut zu einem Krieg entflammt. Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen sind bereits gestorben. Dörfer und Städte gehen im Bombenhagel zugrunde.

Krieg in Bergkarabach: Viele Flüchtlinge in Eriwan

Im siebten Stock des Marriott-Hotels in Eriwan ist die Politik fern. Die Vergangenheit aber ist nah. Der Inhaber hat den ganzen Stock für Flüchtlinge freiräumen lassen, Kinder wuseln über den Flur. Naira Zaragryan steht vor der Tür, sie fegt davor mit Kehrblech und Besen, wie sie es jeden Tag in ihrer Wohnung in Martuni getan hat, einer Kleinstadt an der Grenze zwischen Bergkarabach und Aserbaidschan. Frau Zaragryan ist 69 Jahre alt, und sie stammt eigentlich aus der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku.

Naira Zaragryan auf dem Flur im Marriott-Hotel in Eriwan.
Naira Zaragryan auf dem Flur im Marriott-Hotel in Eriwan. © NRZ | Jan Jessen

„Ich wurde von den Aserbaidschanern 1988 aus Baku vertrieben“, erzählt sie im Hotelzimmer. Sie sitzt auf dem Sofa, klein, zerbrechlich, sie nestelt an ihrem schwarzen Rock, und sie wirkt als fühle sie sich unsicher in dieser fremden Umgebung. Im Krieg 1992 treffen Raketen ihr Haus in Bertaschen, einem kleinen Dorf in Bergkarabach, in dem sie und ihr Mann untergekommen waren. Seit einigen Jahren ist sie Witwe.

Jetzt hat es wieder begonnen. „Ich wurde um zehn nach sieben morgens durch die Einschläge wach.“ Ein Nachbar führte sie in einen Bunker, vorbei an den Trümmern des Nachbarhauses, nach einigen Stunden wurde sie nach Warandar, ein vermeintlich sicheres Dorf, gebracht. „Da haben wir die ganze Nacht die Drohnen gehört.“ Ihr Sohn, sagt sie, ist bei der Artillerie, schon seit 1993, sie knetet die Hände, als sie über ihn spricht, und sie hat Tränen in den Augen.

Türkei soll syrische Söldner angeheuert haben

Dieser Krieg ist anders als der in den neunziger Jahren. Das erzählen alle hier in dem Hotel. Es sind vor allem die Harop-Drohnen aus israelischer Produktion, die großen Schrecken verbreiten. Sie machen einen infernalischen Lärm, kreisen lange und werden dann ins Ziel gesteuert. Kamikaze-Drohnen. Die Türkei als enger Partner Aserbaidschans liefert die bewaffneten Bayraktar TB2-Drohnen, die schon in Libyen zum Einsatz gekommen sind und hat islamistische Söldner aus Syrien angeheuert, die bereits zu Dutzenden vorne an der Front gestorben sein sollen.

Das Geräusch der Drohnen hat Lilya Muradyan nächtelang wachgehalten. Die 51-Jährige kommt aus Hadrut, einer Stadt im Süden Bergkarabachs, in der vor allem Militärangehörige wohnen. Ihr Mann ist Offizier bei den Streitkräften der Republik Arzach, ihr 18-jähriger Sohn dient als Wehrpflichtiger. Vier Nächte, erzählt sie, hat sie zusammen mit vier anderen Frauen in einem Keller verbracht, das dreigeschossige Wohnhaus darüber wurde in Trümmer gebombt. „Wir hatten große Angst.“ Auch sie hat den Krieg in den neunziger Jahren erlebt. Auch sie sagt: „Diesmal ist es schrecklicher.“

Videos zeigen ungeheure Verwüstungen

Am Donnerstag trafen zwei Geschosse die Ghasantschezoz-Kathedrale in der Kleinstadt Schuschi im Süden der umkämpften Region, ein Gebäude mit hoher religiöser Bedeutung für Armenier. Beim zweiten Angriff wurden zehn Zivilisten verletzt, darunter drei Journalisten. Einer von ihnen schwebt in Lebensgefahr. Auch die Zerstörungen in anderen Städten wie Hadrut, in Martuni, oder in Stepanakert, der Hauptstadt Bergkarabachs, in der bis zum Krieg rund 50.000 Menschen lebten, sind gewaltig. Videos von Journalisten, die es nach Stepanakert hineingeschafft haben, zeigen ungeheure Verwüstungen. Es sind Bilder, die an den Krieg in Syrien erinnern.

NRZ-Reporter Jan Jessen im Gespräch mit armenischen Geflüchteten.
NRZ-Reporter Jan Jessen im Gespräch mit armenischen Geflüchteten. © NRZ | Jan Jessen

„Wir haben immer im Fernsehen gesehen, was in Syrien geschieht, und wir haben für die Menschen dort gebetet, sie haben uns so leidgetan“, sagt Naira Zaragryan. „Jetzt ist der Krieg wieder bei uns.“ Die alte Frau ist müde. „Ich will, dass alle Kriege enden. Ich will nicht mehr, dass Menschen leiden.“ Auch Lilya Muradyan wünscht sich ein rasches Ende des Krieges. „Wir wollen, dass das vorbei ist und dass unsere Kinder nach Hause kommen.“

Mindestens 320 armenische Soldaten sind nach Angaben der armenischen Regierung bereits in den Kämpfen gestorben. Auf aserbaidschanischer Seite sollen laut Eriwan Tausende sein, aber Zahlen sind in diesem Krieg nicht wirklich valide. Wie viele Zivilisten den Kämpfen zum Opfer gefallen sind, ist unklar, die Sprache ist von zahlreichen Toten und Verwundeten.

Über die Hälfte der etwa 140.000 Einwohner Bergkarabachs soll bereits auf der Flucht vor den Angriffen sein. Besonders gefährlich für die Zivilisten ist, dass die aserbaidschanischen Streitkräfte international geächtete Streumunition einsetzen. Amnesty International hat dies scharf kritisiert. Die aserbaidschanische Regierung berichtet ihrerseits davon, dass die armenische Seite zivile Ziele in der Nähe der Grenze unter Beschuss nimmt.

Armenier aus aller Welt kommen ins Land

Überall in Eriwan trifft man Armenier, die sich aus anderen Ländern auf den Weg gemacht haben, um zu kämpfen oder um die Soldaten an der Front zu unterstützen, Menschen aus den USA, Kanada, den Niederlanden, Spanien oder aus Deutschland.

Artur, ein Mann mit einem deutschen Pass, Anfang 50, groß, kräftig, aus einer Stadt in Thüringen, hat sich bei seinem Chef freigenommen, um nach Stepanakert zu gehen, der Stadt, in der seine Eltern leben. „Die beiden sind 80, sie sind seit Tagen im Keller, kannst du dir das vorstellen, seit Tagen müssen sie in einem feuchten Keller sitzen?“, fragt er. Zwischen 1992 und 1994 hat er bereits einmal gekämpft, zweimal ist er verwundet worden, erzählt er. „Jetzt musste ich zurückkommen.“

Seit Tagen leben sie in einem feuchten Keller

Alle Gespräche drehen sich um den Krieg. Die Wut der Menschen richtet sich vor allem gegen Ankara und den türkischen Präsidenten Erdogan. Ohne Erdogan hätte Aserbaidschan es nicht gewagt, anzugreifen, glauben sie. „Er will Armenien vernichten“, sagt ein Richter in einem vertraulichen Gespräch. Erdogan, ist der Mann überzeugt, will seine Träume von einer panturkischen Achse verwirklichen, die von der Türkei bis Kirgistan in Zentralasien reicht. Armenien liegt wie ein Keil in dieser Achse. Viele Menschen in Eriwan denken so wie der Mittfünfziger, und immer wieder wird in den Gesprächen an den Völkermord an den Armeniern durch das Osmanische Reich erinnert.

Das Marriott-Hotel in Eriwan ist Zuflucht für viele Geflüchtete aus der Konfliktregion.
Das Marriott-Hotel in Eriwan ist Zuflucht für viele Geflüchtete aus der Konfliktregion. © NRZ | Jan Jessen

In Goris, 200 Kilometer entfernt von Eriwan, nahe der Grenze zu Bergkarabach, ist in einem Flügel des Rathauses ein provisorisches Pressezentrum eingerichtet worden. Am späten Mittwochabend gibt das armenische Verteidigungsministerium dort eine Pressekonferenz. Der Sprecher des Ministeriums berichtet im Flecktarn von anhaltenden Kämpfen, von Gefechten einer bislang nicht da gewesenen Heftigkeit, von erfolgreichen Gegenattacken und von „taktischen Rückzügen“.

Tatsächlich scheinen die aserbaidschanischen Truppen im Süden Bergkarabachs vorzurücken, im Norden halten die Armenier die Stellung. Den Beschuss der Dörfer und Städte verurteilt der Sprecher scharf: „Das ist ein Genozid.“ 3000 bis 4000 syrische Söldner, schätzt er, kämpfen auf der Seite der Aserbaidschaner. Die Türkei sei dabei, neue zu rekrutieren, auch in Afghanistan. Er ist aber sicher, dass Armenien siegen wird. Die Kämpfe würden eines Tages „mit goldenen Lettern in die armenische Geschichte geschrieben“, sagt er pathetisch.

Auf der Straße sind viele Krankenwagen unterwegs

Im Hotel Mtnadzor an der Hauptstraße von Goris sitzen in der Lobby Frauen auf einer Couch, schauen die Sondersendungen zum Krieg, die im Fernsehen gezeigt werden. Hinter ihnen türmt sich ein Berg Kleidung, es sind Spenden für diejenigen, die es aus der Kampfzone herausgeschafft haben. Ob sie auch aus Bergkarabach kommen? Sie nicken. Ihre Kinder spielen, sie lachen, fragen den Besuch aus Deutschland aus. Die Frauen wirken besorgt.

Auf der Rückfahrt von Goris nach Eriwan sitzt im Auto auch ein älteres Ehepaar aus Stepanakert, Naire und Eduard. Ihr Haus ist bei den Angriffen zerstört worden, sie wollen zu Verwandten. Auf der Strecke sind viele Krankenwagen unterwegs, Richtung Eriwan fahren sie mit Blaulicht und hoher Geschwindigkeit. 100 Kilometer vor Eriwan passiert ein großer Konvoi mit Bussen, in denen junge Soldaten sitzen. Bei dem Anblick bricht Naire in Tränen aus. Eduard legt seinen Arm um sie und schweigt.

Die Region Bergkarabach

Bergkarabach, etwa doppelt so groß wie das Saarland, wird fast ausschließlich von Armeniern bewohnt. In der Sowjetzeit wurde es von Stalin Aserbaidschan zugeschlagen, zu dem es seitdem auf dem völkerrechtlichen Papier gehört.

In den postsowjetischen neun-ziger Jahren führten das mehrheitlich islamische Aserbaidschan und das mehrheitlich christliche Armenien einen erbitterten Krieg um die Region, mindestens 30.000 Menschen starben.

Während des Krieges wurde in Bergkarabach die Republik Arzach ausrufen, nach eigenem Verständnis unabhängig, faktisch aber von Armenien kontrolliert.