Halle (Saale). Ein Jahr nach dem rechtsextremen Anschlag in Halle kämpfen viele Überlebende immer noch mit den Folgen. Zwei Betroffene erzählen.

Anastassia Pletoukhina sieht aus dem Fenster der Synagoge, draußen steigt Rauch auf. In dem Moment weiß sie, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. Kurz zuvor hatte es bereits laut geknallt, vielleicht ein Feuerwerkskörper, dachte sie. Ein „Rationalisierungsprozess“, wie die 34-Jährige heute sagt. „Ich hätte mir alles Mögliche denken können außer dem, was es tatsächlich war.“

Was es tatsächlich war, ist ein Anschlag. Am 9. Oktober 2019 versucht ein damals 27-jähriger Mann, schwer bewaffnet in die Synagoge der Jüdischen Gemeinde zu Halle einzudringen. Es ist Jom Kippur, der Tag der Versöhnung, das höchste Fest des jüdischen Kalenders. 52 Menschen sind in die Synagoge gekommen, um zu beten, Pletoukhina ist eine von ihnen. Der Attentäter hat sich vorgenommen, sie umzubringen, weil sie Juden sind, so wird es Stephan B später vor Gericht aussagen.

Anschlag in Halle: Tür der Synagoge hält Schüssen stand

Doch sein Plan geht nicht auf. Die Sprengsätze, die er über die Mauer zum Synagogen-Gelände wirft, funktionieren nicht richtig, die Holztür zur Straße hält den Schüssen aus seinen selbst gebauten Waffen stand. Er erschießt die 40-jährige Passantin Jana L., dann läuft er davon. Er wird noch einen weiteren Menschen töten, einen Passanten aus Somalia mit dem Auto anfahren, auf mehrere Menschen schießen und zwei davon mit Schüssen schwer verletzen, bevor die Polizei ihn schließlich fasst.

Als Pletoukhina noch nach draußen auf die Rauchsäule blickt, schreit plötzlich der Vorbeter: Die Betenden sollen sich in Sicherheit bringen. Erst in diesem Moment versteht sie, was wirklich geschieht. Wie auf Autopilot hätte sie reagiert, erzählt sie ein Jahr danach. Viele Gläubige hätten die Ruhe bewahrt. Unter den US-Amerikanern, die an diesem Tag in der Synagoge waren, hätten sich einige an Anti-Terror-Trainings erinnert. Auch viele der älteren Anwesenden seien gefasst geblieben, erinnert sich Pletoukhina.

Die Synagoge von Halle, die am 9. Oktober 2019 zum Ziel eines antisemitischen Anschlags wurde.
Die Synagoge von Halle, die am 9. Oktober 2019 zum Ziel eines antisemitischen Anschlags wurde. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

In der Synagoge ist die Unsicherheit groß: Ist nur ein Attentäter?

Während Gemeindevorsteher Max Privorozki fast ununterbrochen telefoniert – mit der Polizei, mit dem Zentralrat der Juden, mit den ersten Journalisten – entscheiden sich die Menschen in der Synagoge schließlich weiterzubeten. „Wann, wenn nicht dann?“, sagt Pletoukhina. „Wir wussten ja auch weiterhin gar nicht, was los ist.“ Nur wenige Informationen dringen von außen in die Synagoge, viele Gerüchte, viel Unsicherheit. Lange ist nicht sicher, wie viele Täter es gibt, ob noch andere Gemeinden angegriffen werden.

Später wird klar sein: Stephan B., der Attentäter, handelt an diesem Tag allein. Von der Synagoge aus zieht er weiter. Erst zum Imbiss-Lokal Kiez-Döner, wo er den 20-Jährigen Maler-Lehrling Kevin S. erschießt. Dann raus aus der Stadt, auf der Flucht vor der inzwischen alarmierten Polizei.

Anschlag auf die Synagoge in Halle schockiert das Land

Das Attentat sendet Schockwellen durch die Stadt und das Land. Wochenlang kommen die Hallenser zu einer spontan am Tag des Anschlags errichtet Gedenkstätte auf dem Marktplatz um zu trauern. Solidaritätsbekundungen aus ganz Deutschland erreichen die Jüdische Gemeinde. Die Politik debattiert über die unterschätzte Gefahr des Rechtsextremismus und die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland. Der Anschlag, so der Tenor, ist eine Zäsur.

Auch das Leben von Ismet Tekin – damals Angestellter, heute Betreiber des Kiez-Döners – ist seitdem ein anderes. Immer noch habe er mit psychologischen Folgen zu kämpfen, sagt Tekin. „Es gibt Tage, da fühle ich mich so leer“, sagt er. Er entgeht einem Schuss des Attentäters auf der Straße an jenem Tag nur knapp. Seinem Bruder Rifat, der im Laden war, falle der Umgang mit der Tat noch schwerer.

Ismet Tekin, Inhaber des Kiez-Döners, kämpft noch immer mit den Folgen des Anschlags im Oktober 2019.
Ismet Tekin, Inhaber des Kiez-Döners, kämpft noch immer mit den Folgen des Anschlags im Oktober 2019. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Nicht nur psychisch hat der Anschlag Spuren hinterlassen – auch finanziell ist der Kiez-Döner in Schwierigkeiten. Es kommen nicht mehr genug Gäste seit dem Anschlag. Warum, wisse er nicht, sagt Tekin. „Manche sagen, sie trauen sich nicht. Andere sagen, das ist kein Döner, sondern ein Fußball-Club.“

Gemeint ist damit die Ecke im Laden, die an die Todesopfer erinnert. Unter der stuckverzierten Decke des Lokals reiht sich ein Fan-Schal des Halleschen FC an den anderen, signierte Trikots des Vereins hängen an den Wänden – für Kevin S., der glühender Fan des HFC war. Plüschtiere sitzen auf kleinen Konsolen an der Wand, in der Mitte zwischen ihnen eine goldene Plakette: „R. i. P. Jana & Kevin“ steht darauf, und: „Wo Liebe wächst, gedeiht Leben – wo Hass aufkommt, droht Untergang.“

Halle-Attentäter will den Gerichtssaal als Bühne nutzen

Der Hass, er lässt sich im Landgericht Magdeburg besichtigen, an mittlerweile mehr als zehn Prozesstagen seit Mitte Juli. Dort findet der Prozess gegen B. statt. Mord in zwei Fällen, versuchter Mord an 68 weiteren Menschen, dazu zahlreiche weitere Verbrechen legt ihm der Generalbundesanwalt zur Last.

B. lässt in der Verhandlung keinen Zweifel daran, dass sehr viel mehr Menschen hätten sterben sollen. Muslime betrachtet er als Invasoren, Juden als heimliche Drahtzieher eines Bevölkerungsaustauschs. Es sind Verschwörungstheorien, wie sie auch schon der Attentäter von Christchurch verbreitete, von dem B. sich angespornt fühlte.

Der 28-Jährige, der seine Taten live im Internet übertrug, versucht, das große Interesse an dem Fall für sich zu nutzen, als eine Bühne, auf der er seine Ideologie ausbreiten und andere zu Gewalt aufzustacheln will.

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Ismet Tekin war bislang bei allen Prozesstagen dabei. Jedes höhnische Lachen, jede antisemitische Verschwörungstheorie, jede hasserfüllte Tirade gegen Muslime hat er mitbekommen. Doch der Täter – dessen Namen Tekin nicht nennt – sei nicht der Grund, warum er zum Prozess geht. „Ich sehe ihn nicht. Für mich ist er gestorben“, sagt er. „Ob er da sitzt oder nicht, spielt für mich persönlich keine Rolle.“ Er komme vor allem wegen den Betroffenen, die wie er Nebenkläger sind.

Die Nebenkläger machen klar: Antisemitismus war nie weg

Denn die Bühne in diesem Prozess, sie gehört mittlerweile ihnen. Viele der fast 50 Nebenklägerinnen und Nebenkläger haben ihr Recht zur Aussage genutzt, um von ihrer Sicht auf den Tag zu erzählen. Ihnen ist es wichtig zu zeigen, dass der Hass des Täters ein Fundament hat, dass die Tat auch das Ergebnis einer Gesellschaft ist, in der Antisemitismus nie verschwunden war.

„Es geht auch darum, den größeren Kontext aufzuzeigen und es nicht bei dem Bild des Einzeltäters zu belassen“, sagt Anastassia Pletoukhina. „Das finde ich nicht nur mutig, sondern auch heldenhaft.“Der Diskurs sich mit dem Anschlag sehr verändert, sagt sie. „Dadurch, wie die Medien berichtet haben, wie präsent die Überlebenden waren, dadurch, dass alle im Chor gesagt haben: Es gibt eine Kontinuität von Gewalt“, sagt sie. „Ich bin mir sicher, es hat sich etwas verschoben in unser aller Köpfen.“

Die Tür, die den Schüssen standhielt, soll Teil eines Denkmals werden

Der Prozess wird sich in den Dezember hineinziehen, bis Mitte des Monats sind derzeit Termine angesetzt. Für Ismet Tekin ist klar: Der Attentäter muss den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen. „Darunter ist zu wenig“, sagt er. „Zwei Menschen sind gestorben, mehrere andere sind verletzt. Und die Betroffenen haben immer noch Schmerzen und sind traumatisiert.“

Den Kiez-Döner wollen er und sein Bruder bald umbauen, ein Frühstückslokal soll daraus werden. Das Geld für den Umbau hat die Jüdische Studierendenunion Deutschland gesammelt, 29.000 Euro sind zusammengekommen. Die Synagoge hat in diesen Tagen den Polizeischutz, den sie vor einem Jahr nicht hatte. Die Tür mit den Einschusslöchern ist seit dem Sommer ausgetauscht. Sie wird Teil eines Denkmals, das am Jahrestag des Anschlags eingeweiht werden soll. Die neue Tür ist unversehrt.