Berlin. Rechtsextremismus: Bundesinnenminister Horst Seehofer kann sich nicht entscheiden, ob er ablenken oder bei der Polizei aufräumen will.

Die Polizei hat ein Imageproblem. Das passiert schnell. Hier ein Video über einen Einsatz, der aus dem Ruder läuft, dort Drohmails, deren Spur zu einem Polizeirevier führt. Schlagzeilen über rechte Chatgruppen, ein SEK-Beamter, der ein Netzwerk zur Prepperszene leitet. Es sind Einzelfälle.

In der Summe führen sie zum Ansehensverlust. Wird nicht gegengesteuert, droht ein noch größerer Schaden: Vertrauensverlust.

Es darf nicht der Anspruch der Sicherheitsbehörden sein, ein Querschnitt der Bevölkerung zu sein. Studien zeigen, dass jeder Fünfte für rechtspopulistische Einstellungen anfällig ist. Wenn das auch für diejenigen gilt, die das Gewaltmonopol haben, müsste man sich Sorgen machen. Die Gesellschaft ist irritiert über die Polizeimeldungen in eigener Sache.

Rechte Einstellungen bei der Polizei: Wie groß ist das „Dunkelfeld“?

Die Sicherheitsbehörden müssen den Ehrgeiz haben, den besseren Ausschnitt der Gesellschaft wiederzugeben, wie es BKA-Präsident Holger Münch formuliert hat. Er zog sich am klügsten aus der Affäre, als am Dienstag der Lagebericht über die Rechtsextremisten in den Sicherheitsbehörden vorgelegt wurde.

Miguel Sanches kommentiert den Lagebericht zu Rechtsextremismus in den deutschen Sicherheitsbehörden.
Miguel Sanches kommentiert den Lagebericht zu Rechtsextremismus in den deutschen Sicherheitsbehörden. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Verteilt über drei Jahre enthält dieser rund 380 (Verdachts-)Fälle; nicht viel gemessen an fast 300.000 Mitarbeitern in den Sicherheitsbehörden. Aber erstens gehen die Fachleute vom Verfassungsschutz selbst „grundsätzlich von einem Dunkelfeld“ aus. Lesen Sie dazu: Hunderte Verdachtsfälle zu Rechtsextremismus in Behörden

Es muss einiges zusammenkommen, bis man den Kollegen anschwärzt, der einem buchstäblich Rückendeckung gibt. Die Grünen fordern seit Langem Ansprechstellen für Beamte außerhalb dienstlicher Hierarchien, um Verdachtsfälle ohne Furcht vor Nachteilen zu melden. Wird die Forderung nicht aufgegriffen, weil sie von der Opposition kommt?

Die überragende Mehrheit ist verfassungstreu

Zweitens sind viele Verdachtsfälle erst nach Beendigung des Lagebilds publik geworden. So hat der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) klargestellt, dass das Ausmaß rechtsextremer Chatgruppen bei seiner Polizei noch nicht absehbar sei. Die gestrigen Zahlen bilden womöglich die Spitze eines Eisberges ab.

Es gibt keinen Zweifel, dass die überragende Mehrheit der Beamten verfassungstreu ist, vielleicht tatsächlich zu 99 Prozent, wie Innenminister Seehofer (CSU) meint. Die Frage ist, welche Gefahr vom restlichen Prozent ausgeht.

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Es fehlt nicht an Kontrolle, aber vielleicht an Achtsamkeit

Das Problem ist nicht, dass die Kontrolle versagt. Wenn ein Verdachtsfall gemeldet wird, wird ihm nachgegangen. Auch bei der Einstellung werden die Anwärter streng überprüft. Aber irgendwann im Laufe eines Berufslebens driftet jemand ab, ohne dass davon Notiz genommen wird.

Wer jahrelang im Clanmilieu ermittelt oder als Drogenfahnder überwiegend mit ausländischen Dealern zu tun hat, muss ohnehin aufpassen, dass sich seine Fähigkeit zur Differenzierung nicht abnutzt und dass er nicht von einer Teilgruppe auf die Gesamtheit schließt.

Seehofer muss man zugute halten, dass er der erste Bundesinnenminister ist, der eine Vermessung des Rechtsex­tremismus in den Behörden angeordnet hat, und dass „seine“ Polizisten am wenigsten auffällig geworden sind. Hessen hat mehr Verdachtsfälle als der Bund.

Seehofer- Koalition bekämpft Rechtsextremismus wie keine Regierung zuvor

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    Seehofer legt sich fest: Es gibt keinen strukturellen Rassismus

    Als Dienstherr hat Seehofer eine Fürsorgepflicht. Er wiederholt nicht den Fehler einer früheren Verteidigungsministerin im Umgang mit Extremismus, nämlich alle unter Generalverdacht zu stellen. Aber was will er mehr, aufräumen oder ablenken?

    Man kann nicht eine „tiefere Analyse“ des Lageberichts ankündigen und zugleich behaupten, dass wir kein strukturelles Problem mit dem Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden haben. Wie ergebnisoffen kann eine Analyse sein, wenn der oberste Dienstherr sich so festlegt? Seltsam auch seine Ablehnung einer Polizeistudie zu Rassismus. Hält er es für unmöglich, dass sie die Polizei entlasten würde? Lesen Sie dazu: Seehofer plant Studie zu Rassismus – ohne Fokus auf Polizei