Berlin. 319 Verdachtsfälle von Rechtsextremismus verzeichnet der Verfassungsschutz in den Ländern. Seehofer sieht „kein strukturelles Problem“.
Sie arbeiten in jenen Behörden, die für die Sicherheit der Bürger sorgen sollen – und entpuppen sich irgendwann selbst als Gefahr für das demokratische Gemeinwesen: Mehrere hundert Mitarbeiter von Polizei und Geheimdiensten sind wegen rechtsextremistischer Umtriebe unter Verdacht geraten. Die geht aus dem ersten Lagebericht zum Rechtsextremismus in deutschen Sicherheitsbehörden hervor, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde.
Demnach werden für die Zeit von Januar 2017 bis März 2020 insgesamt 319 Fälle in den Ländern und weitere 58 Verdachtsfälle bei den Sicherheitsbehörden des Bundes aufgeführt. Der Militärische Abschirmdienst (MAD), der für die Bundeswehr zuständig ist, meldete den Angaben zufolge 1064 Verdachtsfälle.
Innenminister Seehofer spricht von „geringer Fallzahl“
In zwei der erfassten Fälle stellte sich heraus, dass sich ein Beamter als Mitglied einer rechtsextremistischen Organisation angeschlossen hatte. Zweimal wurden Kontakte zu solchen Gruppierungen nachgewiesen. In der großen Mehrzahl der Verdachtsfälle ging es um radikale Äußerungen oder die Verbreitung verfassungsfeindlicher Symbole, Parolen oder Bilder über Chatgruppen oder soziale Medien.
In der großen Mehrzahl waren es männliche Mitarbeiter, die wegen rechtsextremer Vorfälle auffielen. Bei 34 Fällen, in denen sich der Verdacht auf Rechtsextremismus erhärtet hat, wurde weitergehend untersucht. 22 Mitarbeiter waren bei der Polizei, elf in der Bundeswehr und ein weiterer beim Zoll.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sagte mit Blick auf die Gesamtzahl der Belegschaft der untersuchten Sicherheitsbehörden, der Lagebericht zeige, dass über 99 Prozent der Polizeibeamten „fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehen“. Es bedeute auch, „dass wir kein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern haben“. Dies werde in der Gesamtbewertung deutlich.
„Wir haben es mit einer geringen Fallzahl zu tun“, betonte Seehofer. Dennoch hätten Mitarbeiter im öffentlichen Dienst eine Vorbildfunktion. Insofern sei jeder Fall ein Schaden für das Ansehen der Sicherheitsbehörden.
Rechte Netzwerke – Verfassungsschutz kündigt Aufklärung an
Der Bericht wurde vom Bundesamt für Verfassungsschutz auf Grundlage von zugelieferten Daten der anderen Sicherheitsdienste erstellt. Erfasst wurden unter anderem Verdachtsfälle von Verfassungsschutzämtern und Polizei der Länder sowie von Bundesbehörden wie dem Bundeskriminalamt (BKA), der Bundespolizei, dem Militärischen Abschirmdienst (MAD), dem Bundesnachrichtendienst (BND) und dem Zoll.
Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, sagte, seine Behörde werde die einzelnen Fälle nicht isoliert betrachten, sondern wolle aufklären „ob wir vernetzten Rechtsextremisten gegenüberstehen, die ihre Verbindungen ausbauen“. Er könne in der Bundespolizei „keine rechtsextremen Netzwerke erkennen“, betonte der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann.
Berücksichtigt wurden in dem Bericht laut Haldenwang alle Fälle, die Maßnahmen der Behörden nach sich gezogen haben. In einem Teil der Fälle erfolgten Disziplinarverfahren, einige der Betroffenen wurden entlassen. Haldenwang betonte, die Bandbreite der erfassten Vorfälle sei groß. Betrachtet worden seien Fälle mit typisch rechtsextremen Merkmalen wie Rassismus, Antisemitismus oder Verherrlichung des Nationalsozialismus.
Das federführende Bundesamt hatte für die Erhebung einen Fragebogen an jede einzelne Behörde verschickt. Über das, was darin abgefragt wird, hatte es zuvor einen Abstimmungsprozess mit den Ländern gegeben.
Seehofer lehnt Studie ab – und erntet dafür Kritik
Zuletzt waren Fälle bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen und Berlin bekannt geworden. Auch beim Landesverfassungsschutz in Düsseldorf gab es entsprechende Vorkommnisse. Eine wissenschaftliche Studie eigens zum Rechtsextremismus in der Polizei hatte Seehofer trotz vielfacher Forderungen abgelehnt.
Die Innenpolitikexpertin der Grünen im Bundestag, Irene Mihalic, erneuerte diese Forderung. Ein „vertiefter Blick“ wäre wichtig, um das Ausmaß von Problemen zu erkennen, sagte Mihalic am Dienstag. „Ich kann diese Wissenschaftsfeindlichkeit in keiner Weise nachvollziehen.“ Einen vertieften Blick auf das Thema bekäme man durch den Lagebericht „selbstverständlich nicht“, so die Politikerin.
Es sei wichtig, die Frage zuzulassen, ob es ein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus und Rassismus in der Polizei gibt. Außerdem ermögliche eine Untersuchung auch den Blick auf Ursachen für Radikalisierungen von Beamten im Dienst. Dies sei notwendig, um Probleme letztlich lösen zu können, erklärte Mihalic.
- Mehr zu Hasskriminalität: Organisierter Rechtsextremismus: Das ist das Netz der Nazis
- Tiefe Einblicke: ProSieben schockt mit Doku über die rechtsextreme Szene
- Gesellschaftsstudie: Seehofer plant Studie zu Rassismus – ohne Fokus auf Polizei
- Meinung: Seehofer muss entschiedener gegen rechte Polizisten vorgehen