Bottrop/Herne. Kaum jemand polarisiert so sehr wie die SPD-Chefin Saskia Esken, die sich unbeirrt Respekt erarbeitet – auch bei der Bundeskanzlerin.

Es gibt reizvollere Orte auf der Welt als den Bottroper Busbahnhof. Auf Saskia Esken wartet dort eine schöne Überraschung. Als die SPD-Chefin aussteigt, spricht sie ein Mann für ein Selfie an. Eine halbe Stunde später, nachdem Esken mit dem Bottroper Oberbürgermeister über die Vorzüge einer kommunalen „Energiewende von unten“ diskutiert hat, taucht der Mann wieder auf.

Er war im Drogeriemarkt, hat das Selfie ausgedruckt und lässt Esken auf dem Foto unterschreiben. Freudestrahlend, als habe Lionel Messi gerade auf Schalke einen Fünf-Jahres-Vertrag abgezeichnet, zieht der Bottroper mit seiner Trophäe ab.

Esken, die in ihrer schwäbischen Heimat als „Schwertgosch“ gilt, also als eine, die nicht auf den Mund gefallen ist, ist erst mal baff. Es war nur ein Genosse von 420.000 Parteimitgliedern. Aber immerhin. Esken tut die Wertschätzung während einer mehrtägigen Sommerreise durch Nordrhein-Westfalen gut.

Wohl keine andere Spitzenpolitikerin polarisiert so stark wie sie. Als unauffällige Hinterbänklerin im Bundestag schoss sie vor knapp einem Jahr wie aus dem Nichts an die Spitze der ältesten Partei Deutschlands.

Saskia Esken zieht Fäden und bringt Ruhe in die SPD

Saskia Eske auf der Landmarke Tetraeder.
Saskia Eske auf der Landmarke Tetraeder. © dpa | Rolf Vennenbernd

Viele SPD-Funktionäre empfanden Esken als Zumutung. Wenn sie Vertretern des konservativen Flügels begegnet, sei der Boden vor ihren Füßen gefroren, erzählte sie einmal. Mittlerweile ist Tauwetter angesagt. Stück für Stück haben sich Esken und ihr Co-Chef Norbert Walter-Borjans Respekt erarbeitet. Im Sommer zündelten CDU und FDP in Thüringen am rechten Rand. Die SPD-Spitze haute im Koalitionsausschuss auf den Tisch und erreichte, dass die Bundesregierung sich in beispielloser Form von Geschehnissen in einem Landtag distanzierte.

Nur zur Erinnerung: Eskens Vorgängerin Andrea Nahles läutete ihren Untergang selbst ein, indem sie die Beförderung des später gefeuerten Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen mit absegnete. Davon erholte sich Nahles an der Basis nie mehr. Esken ist ein vergleichbarer Fauxpas bislang nicht unterlaufen. Dafür hat sie spektakuläre 180-Grad-Kehrtwenden hingelegt.

Vom Ende der großen Koalition will sie nichts mehr wissen. Olaf Scholz, den sie politisch hart bekämpfte, machte die Parteiführung Anfang August zum Kanzlerkandidaten. Viele Parteilinke waren stinksauer. Die Internetkampagne „NOlaf“ versandete dennoch schnell. Esken stellte sich der Basis in unzähligen Videoschalten, begründete ihren Sinneswandel mit dem Wohl der Partei und den Vorzügen des anerkannten Corona-Krisenmanagers Scholz.

Kanzlerkandidat Scholz- In der Groko noch viel zu tun

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    So ruhig und geschlossen wirkte die Krawallschachtel SPD schon lange nicht mehr. Zu Angela Merkel scheint Esken einen guten Draht gefunden zu haben. Die Corona-Sommerferien verbrachte Esken auf dem Darß, wo Merkel jede Fischbude kennt. Vor wenigen Tagen lobte die Kanzlerin „Frau Esken“ öffentlich dafür, wie die Digitalexpertin beim Schulgipfel mit den Ländern die Sache mit den geplanten Laptops für Lehrer angepackt habe. Jede Woche wird regelmäßig mit der Kanzlerin telefoniert.

    Esken zeigt Haltung – Häme blendet sie aus

    Nun wäre es sicher vermessen, die machtpolitische Spätzünderin Esken aus Calw bei Stuttgart mit der mächtigsten Frau der Welt vergleichen zu wollen. Aber jene Skepsis, ja fast Verachtung, die Esken beim Start im politischen Betrieb entgegenschlug, erfuhr Angela Merkel zu Beginn ihrer Karriere in der testosterongeschwängerten Union ebenfalls. Anders als Merkel, die Meisterin verschwurbelter Sätze, geht Esken verbal keinem Streit aus dem Weg. Kritiker sagen, sie stürze sich in Konflikte. Sie erwidert darauf nur ein Wort – „Haltung“.

    Haltung ist für sie, wenn sie Anfang August 20.000 Teilnehmer der Demo in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen auf Twitter als „Covidioten“ bezeichnet. Es hagelte Hunderte Strafanzeigen. Im Netz kursierten dafür Musterschreiben. Während sie durch den Ruhrpott tourt, um für die SPD vor den wichtigen NRW-Kommunalwahlen am übernächsten Sonntag zu trommeln, gibt die Berliner Staatsanwaltschaft die Einstellung der Ermittlungen bekannt. Die zugespitzte Formulierung „Covidiot“ sei nicht strafbar und von der Meinungsfreiheit gedeckt.

    „Geht doch“, sagt Esken. Sie sieht sich nach dem jüngsten „Sturmversuch“ von Corona-Leugnern und Rechten auf den Stufen des Parlaments doppelt bestätigt. Wie stark setzen ihr Kritik und Häme zu? „Ich kann das ganz gut ausblenden. Das richtet sich nicht an mich persönlich, sondern an meine Rolle.“

    Sie ist eine der wenigen, die sich persönlich um ihren Account mit fast 75.000 Followern und dem Simpsons-Comic-Profilbild kümmert. Fast rund um die Uhr, mit Risiken und Nebenwirkungen. „Bei Twitter darf keiner ran – das ist meins“, sagt sie. Und zückt das Smartphone, das in einer SPD-roten Hülle steckt.

    Auf dem linken Ohr ist sie fast taub – das erklärt ihre Miene

    Was sagt sie über ihr Image? „Schrill, grimmig, aber mit Haltung“, antwortet die Mutter von drei erwachsenen Kindern wie aus der Pistole geschossen und lacht. Im Fernsehen und auf Fotos kommt sie häufig verkniffen rüber. Das habe seine Gründe, erklärt sie.

    Als Kind erkrankte Esken an Mumps. Daraus entwickelte sich eine Hirnhautentzündung, die unentdeckt blieb. Seitdem hört sie links sehr schlecht. So muss sie in Gesprächen immer darauf achten, richtig zu stehen und hochkonzentriert mit dem rechten Ohr nah bei ihrem Gegenüber zu sein. Dass sie dabei angestrengt wirkt, ist nachvollziehbar.

    Was ihr in Herne Oberbürgermeister Frank Dudda (SPD) zuruft, versteht sie prächtig: „Saskia Esken hat als Erste verstanden, dass Deutschland Daten und Talente braucht.“ Dudda impft Esken aber auch ein, dass es vielleicht doch nicht so klug sei, alle Kritiker der Corona-Regeln in einen Topf zu schmeißen und zu sagen: „Ihr seid dumm und extrem.“

    In ihrer einstigen Herzkammer mussten die SPD-Recken mit ansehen, wie ihnen die Leute massenhaft zur AfD wegliefen. Bei der Kommunalwahl könnte die SPD in vielen Städten hinter CDU und Grünen landen. Hintergrund: SPD will sich neu aufstellen – und das Ende von Hartz IV

    Esken träumt vom Linksbündnis

    Im Bund träumt Esken von einem Linksbündnis. Sie weiß, dass die einzige Machtoption der SPD auf tönernen Füßen steht. Viele in der Linkspartei wollen die Nato auflösen und alle Bundeswehreinsätze im Ausland stoppen. Selbst einer linken Pazifistin wie Esken geht das viel zu weit. Aber die SPD dürfe nicht nur auf andere zeigen, sondern müsse sich auch selbst inhaltlich bewegen. Geredet werden soll auf jeden Fall, wenn es die Zahlen hergeben.

    Und sie selbst? Ist sie eine Übergangsvorsitzende, bis eine Franziska Giffey oder Manuela Schwesig übernimmt? Sie will noch länger der SPD ihren Stempel aufdrücken. „Gekommen um zu bleiben“, sang die Band Wir sind Helden. Vom Heldenstatus ist Esken zwar meilenweit entfernt. Aber die 59-Jährige lernt sehr schnell. Erste Digitalministerin Deutschlands – würde sie das reizen? „Ich halte mich da mal zurück. Mal gucken, was wird.“ Ein Nein hört sich anders an.

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