Berlin. Die Bilder von der Corona-Demonstration am Samstag in Berlin schockieren. Wurde die Gefahr durch rechte Gruppen zuvor unterschätzt?

„Wer die verstörenden Bilder gesehen hat“, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Montagmorgen, „der musste noch Schlimmeres befürchten.“ Dass es dazu nicht kam, dass Rechtsextremisten am Samstag nicht auch noch ins Innere des Reichstagsgebäudes gelangten – das hatten diejenigen verhindert, die an diesem Morgen bei Steinmeier zu Gast sind: Sechs Polizisten, stellvertretend für die Einsatzkräfte, die am Wochenende in Berlin das Reichstagsgebäude geschützt hatten.

Erst zu dritt, später mit Verstärkung, stellten sie sich dem Ansturm aus Neonazis, Reichsbürgern und anderen radikalisierten Demonstranten entgegen. Es ist ein Alarmzeichen, dass sich der Bundespräsident nach der Eskalation am Wochenende so sichtbar einmischt – und genau so soll es auch verstanden werden: „Rechtsextremismus ist eine ernsthafte Gefahr“, mahnt das Staatsoberhaupt – und ermahnt gemäßigte Demonstranten: „Wer auf den Straßen den Schulterschluss mit Rechtsextremisten sucht, macht sich mit ihnen gemein.“ Hat das Land wieder mal den Einfluss der Rechten unterschätzt?

Corona-Demo: Verfassungsschutz warnte vor Einflussnahme rechter Kreise

Die Sorge ist real, dass rechte Gruppen die Corona-Protestbewegung komplett vereinnahmen. Bereits vor dem Wochenende hatte der Verfassungsschutz davor gewarnt, dass rechte Kreise verstärkt versuchten, ihre Anhänger für die Berliner Demonstrationen zu mobilisieren. Aber: „Bislang ist es ihnen nicht gelungen, die Corona-Proteste vollständig für sich zu instrumentalisieren“, erklärt ein Sprecher des Innenministeriums am Montag.

Bei der Gruppe, die am Samstag die Treppe zum Reichstagsgebäude hochgestürmt war, seien neben Neonazis, Reichsbürgern und anderen Rechtsextremen auch Protestierer gewesen, bei denen „man mit der Einordnung vorsichtig sein sollte“.

Auf Videos sind neben deutschen Reichsflaggen etwa auch eine niederländische und eine türkische Flagge zu sehen. Die Behörden seien auch Vermutungen nachgegangen, nach denen die Proteste zum Teil auch durch Desinformation aus dem Ausland angestachelt worden seien – doch solche Einflussnahme „sollte man nicht überbewerten“, so der Sprecher. Lesen Sie hier: Corona-Demo: Entsetzen nach rechter Eskalation am Reichstag

Polizeigewerkschaft sieht Parallelen zu Pegida

Jörg Radek beobachtet die Bewegung seit Monaten, er ist tief besorgt: „Seit den ersten Hygiene-Demonstrationen verfestigt sich der Einfluss rechtsextremer Gruppen auf die Corona-Protestbewegung. Die Rechten sind dabei, die Bewegung komplett zu kapern“, sagte der Vize-Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) unserer Redaktion.

Radek sieht zudem eine gefährliche Parallele: „Die Gefahr ist groß, dass sich die Corona-Protestbewegung genauso entwickelt wie die Pegida-Bewegung: Sie wird unter dem Einfluss rechtsextremer Kreise radikaler.“ Auch bei Pegida habe am Anfang die Wut über politische Entscheidungen und eine hohe Anfälligkeit gegenüber rechter Einflussnahme gestanden. Lesen Sie den Kommentar zu den Ausschreitungen: Protestler offenbaren in Berlin ihre undemokratische Haltung

Wie der Bundespräsident richtet auch der Polizeigewerkschafter einen dringenden Appell an die gemäßigten Corona-Demonstranten: „Jeder, der jetzt noch dabeibleibt, muss sich die Frage stellen, ob er sich mit den Rechtsex­tremisten gemeinmachen will und seine persönlichen Sorgen in der Corona-Krise mit den demokratiefeindlichen Zielen der Extremisten verbinden will.“

Gesellschaftlichen Milieus bei den Kundgebungen vermischen sich

Torsten Hahnel von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus in Sachsen-Anhalt wirft der Politik hingegen vor, die Lage im Vorfeld falsch eingeschätzt zu haben: „Es war schlicht nicht zu übersehen, wie eindeutig die hohe Präsenz von Rechtsradikalen sein würde. Nur hat es zum wiederholten Mal niemand ernst genommen“, sagte Hahnel unserer Redaktion. Auch wer die Demonstrationsaufrufe im Vorfeld gesehen habe, hätte seiner Ansicht nach erkennen können, „dass hier extreme Rechte, Kameradschaften und Hooligans mobilisieren“.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach seinem Treffen mit Polizisten, die am Samstag bei der Anti-Corona-Demonstration eingesetzt waren, vor der Presse.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach seinem Treffen mit Polizisten, die am Samstag bei der Anti-Corona-Demonstration eingesetzt waren, vor der Presse. © dpa | Bernd von Jutrczenka

Bei den Corona-Protesten sieht Hahnel ohnehin eine neue Entwicklung. Es sei zu beobachten, dass sich die gesellschaftlichen Milieus auf den Kundgebungen zunehmend vermischten, „die Hemmschwelle sinkt, gemeinsam mit Rechtsextremen auf die Straße zu gehen und selbst absurdeste Argumente zu übernehmen.“ Es finde kaum mehr Abgrenzung statt. „Impfgegner, Esoteriker, radikale Veganer und beinharte Rechte“ fänden sich bei den Demonstrationen zusammen und tolerierten einander weitgehend. „Das ist eine neue Qualität“, sagte Hahnel.

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Im Umkehrschluss bedeute dies „eine zunehmende Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte“. Viele dieser Menschen vernetzten sich online und fänden im Internet Gleichgesinnte, das beschleunige die Entwicklung massiv. Die Demonstranten hätten im Vorfeld gewusst, in wessen Gesellschaft sie sich befinden würden, und hätten trotzdem mitgemacht. „Auch die Parolen ähneln sich zunehmend“, beobachtet der Extremismusexperte.

Denn nicht nur unter Rechtsextremen gebe es Antisemitismus, „sondern auch bei Esoterikern und Anhängern von Weltverschwörungsideologien“. Gemeinsam seien sie „gegen die da oben“.

Polizei von Bund und Land wollen sich besser abstimmen

Gegen die Demonstranten auf der Reichstagstreppe wird aktuell wegen des Verdachts auf Landfriedensbruch ermittelt. Auch gegen die Frau, die auf der Bühne einer Reichsbürger-Demonstration direkt vor dem Bundestag zum Sturm auf das Gebäude aufgerufen habe, laufen inzwischen Ermittlungen. Nach einem Medienbericht soll es sich um eine bekannte Vertreterin der Reichsbürgerszene handeln, die aus der Eifel stammt und als esoterische Heilpraktikerin arbeitet.

Senat und Polizei in Berlin wollen nun klären, wie sich solche Vorfälle künftig verhindern lassen. „Das sind beschämende Bilder“, sagte Innensenator Andreas Geisel (SPD) am Montag im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses. Es bedürfe jetzt einer entsprechenden Abstimmung zwischen Berliner Polizei und Bundestagspolizei, „damit das in Zukunft ausgeschlossen bleibt“, sagte Geisel.

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