Washington. 57 Jahre nach Martin Luther Kings „I have a dream“-Rede in Washington demonstrieren Zehntausende gegen Polizeibrutalität und Rassismus.
„Ich bin es satt, Gerechtigkeit zu verlangen. Wir marschieren schon seit fast 60 Jahren mit denselben Forderungen.” Frank Nitty ist wütend. Sehr wütend. Und er ist nicht allein.
Der schwarze Mann mit den Rasta-Locken hat 1200 Kilometer und drei Wochen Fußmarsch aus Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin hinter sich. Jetzt steht er in sengender Tropen-Schwüle vor einem Mikrofon auf den Treppen des Abraham Lincoln-Denkmals in Washington und verkörpert vor Zehntausenden Demonstranten den Unterschied zum Fortschrittsglauben von damals.
Am 28. August 1963 hielt Dr. Martin Luther King an gleicher Stelle vor 250.000 Menschen eine Rede für die Ewigkeit. Sein „Traum” von einem Amerika, in dem seine Kinder nicht mehr nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden, gehört bis heute zu den Leitsternen eines Landes, das nie aufgehört hat mit seiner auf Sklaverei basierenden Vergangenheit zu ringen. Nur wenige Monate später setzte Präsident Lyndon Johnson per Unterschrift Bürgerrechts- und Wahlrechtsgesetze in Kraft, die der Rassentrennung und strukturellen Benachteiligung von Afro-Amerikanern ein Ende bereiten sollten.
Polizeigewalt: Zehntausende Demonstranten in Washington
Fast sechs Jahrzehnte später wirkt die Uhr wie zurückgedreht und der erzielte Fortschritt von damals für viele winzig klein und akut gefährdet. Es geht um Elementares. Ums Überleben. Ausgelöst durch den tödlichen Einsatz, bei dem ein Polizist in Minneapolis am 25. Mai dem am Boden in Handschellen liegenden Afro-Amerikaner George Floyd solange das Knie auf den Hals drückte, bis er bewusstlos wurde und starb, hatte der New Yorker Anwalt und Bürgerrechtler Reverend Al Sharpton am 57. Jahrestag der King-Rede zu einem Revival unter dem Motto “Get Your Knee Off Our Necks” aufgerufen - Nehmt Euer Knie von unseren Hälsen!
Sharpton will Druck machen. Neue Gesetze, die der der Polizei Grenzen setzen, ihre nahezu unbegrenzte Immunität beschneiden und sie bei Fehlverhalten schneller haftbar machen könnten, haben zwar gerade das demokratisch beherrschte Repräsentantenhaus passiert. Im Senat stehen mit Billigung von Präsident Donald Trump, der in der schwarzen Community weitgehend unten durch ist, die Republikaner auf der Bremse.
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Nicht nur Frank Nitty will sich damit nicht länger abfinden: „Ich habe die Nase voll. Mein Enkel sollte nicht mehr gegen Polizeibrutalität protestieren müssen. Wir benötigen echten Wandel. Und war sofort.”
Demonstranten fordern Freiheit und Gerechtigkeit in den USA
Jerome Smith, 78, zwei Tage vorher mit dem Zug aus Detroit angereist, wischt sich in diesem Moment Schweiß und Tränen aus den Augen. Der pensionierte Lehrer erinnert sich noch gut an die Worte des legendären demokratischen Kongress-Abgeordneten John Lewis, der vor wenigen Wochen an Krebs gestorben ist und 1963 in Washington als schwarzer Studentenführer einer der jüngsten Redner im Schatten Kings war.
„Ihr sagt, wir sollen warten. Ihr sagt, wir sollen uns gedulden”, zitiert der alte Mann einen seiner persönlichen Helden, “wir können nicht warten. Wir haben keine Geduld mehr. Wir wollen unsere Freiheit, und wir wollen sie jetzt.” Dieses jetzt ist „drängender denn je”, sagt Smith, „wir treten auf der Stelle.”
Bei ihm und vielen anderen älteren Semestern der Demonstration, bei der anders als am Vorabend während der Abschlussrede von Präsident Donald Trump am Weißen Haus durchweg Corona-Atemschutzmasken getragen wurden, blitzten ambivalente Erinnerungen auf.
Marsch gegen Polizeigewalt: Angehörige der Opfer kommen zu Wort
Im August 1963 hatten Präsident Kennedy und die Stadtverwaltung bis zuletzt gegen den “Marsch auf Washington” opponiert. Teilnehmern wurde untersagt, in Washington zu übernachten. Protestplakate warten verboten. Zeitungen warnten vor Ausschreitungen und Plünderungen. Geschäfte und Ämter in der Innenstadt wurden (wie auch diesmal…) mit Holzplatten verrammelt. Alles unnötig.
Bis zur Abschlusskundgebung, als Martin Luther King die berühmten Worte „I have a dream” sprach, herrschte eine friedliche Stimmung. Hunderte standen im knietiefen Wasser des „Reflecting Pool” vor dem Lincoln Memorial, um sich in der Hitze Abkühlung verschaffen. So auch diesmal.
Rassismus: Angehörige von Polizei-Opfern halten bewegende Reden
Zu den bedrückendsten Momenten gehörten am Samstag die Reden der Angehörigen von Polizei-Opfern, deren Namen das schwarze Amerika aufsagen kann wie in anderen Ländern Jugendliche die Aufstellung von Fußball-Nationalmannschaften. Eric Garner Jr., Sohn des 2014 im Schwitzkasten eines Cops ums Leben gekommenen gleichnamigen New Yorkers, wiederholte die Signatur-Worte seines Vaters kurz vor dessen Tod: „I can`t breathe” - Ich kann nicht atmen.
Sabrina Fulton, die Mutter des 2012 in Florida von einem Nachbarschafts-Wächter erschossenen Trayvon Martin (17), ließ die Zuhörer wissen, dass „wir nicht aufgeben dürfen, auch wenn es düster aussieht”. Marcus Arbery, der Vater des im Februar von zwei weißen Rassisten beim Joggen in Georgia im Stile brutaler Selbstjustiz erschossenen Ahmaud Arbery, rührte zu Tränen, als er sagte: „Ich bin es gewöhnt, dass mich mein Junge anruft und mir sagt, dass er mich liebt. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte er vergessen mich anzurufen.”
Martin Luther Kings Enkelin ruft gegen Rassismus auf
Philonise Floyd zitterte die Stimme, als er von den Treppen herunter auf die Menschenmassen sah und rief: „Ich wünschte mein Bruder George hätte das sehen können.” Schließlich Jacob Blake Senior, der Vater des erst vor wenigen Tagen in Kenosha/Wisconsin mit sieben Schüssen in den Rücken lebensgefährlich von der Polizei verletzten Jacob Blake (29). „Es gibt ein schwarzes und ein weißes Justizsystem in Amerika”, rief der beleibte Mann, gestützt auf Helfer, „um das schwarze System steht es nicht gut. Ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden geben.”
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Am Ende war es an Dr. Martin Luther Kings Enkelin Yolanda Renee King, den Staffelstab aufzunehmen und das junge Amerika zum Kampf gegen Ungleichheit und Rassismus aufzurufen. „Wir werde die Generation sein, die systemischen Rassismus ein für allemal niederreißt”, rief sie an der Stelle, an der ihr Großvater vor 57 Jahre seinen berühmten „Traum” hatte. Das Mädchen ist 12 Jahre alt.
Was sie sagte, erinnerte an Barack Obama. Der erste schwarze Präsident Amerikas hatte zum 50. Jahrestag der King-Rede 2013 an gleicher Stelle verkündet, was viele Afro-Amerikaner glauben. „Der Wandel kommt nicht aus Washington, er kommt nach Washington.”