Berlin. Die Zahl der Schulabbrecher steigt – aus rätselhaften Gründen. Und das Bildungsministerium bestreitet, dass es Handlungsbedarf gibt.

Der Knick in der Kurve kommt nach sieben Jahren. Von 2006 an war die Zahl der Jugendlichen, die in Deutschland ohne Abschluss die Schule verlassen, gesunken. Nicht rasant, aber erkennbar. Doch seit 2013 steigt die Kurve wieder – und niemand weiß so genau, warum.

2008 hatten Bund und Länder sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, den Anteil der Schülerinnen und Schüler, die ihren Abschluss nicht schaffen, zu halbieren, von acht Prozent auf vier. Lange sah es aus, als könnte dieses Ziel erreicht werden. Die Zahlen wiesen in die richtige Richtung, am Tiefpunkt 2013 waren von den ursprünglich acht Prozent noch 5,7 Prozent übrig. Mittlerweile sind es wieder fast sieben Prozent der Jugendlichen, die am Ende ihrer Schullaufbahn ohne Abschluss dastehen, an den Hauptschulen sind es sogar zehn Prozent.

2018 waren es insgesamt 54.000 Jugendliche in Deutschland. Ein Teil dieser Jugendlichen hat zuvor Förderschulen besucht, an denen nicht immer ein Abschluss das Ziel der Schullaufbahn ist. Doch die Zahl der Förderschüler ist in den vergangenen Jahren gesunken – „die Zunahme an Schulabgängen ohne Abschlüsse geht ausschließlich auf sonstige Schularten zurück“, heißt es deshalb im Nationalen Bildungsbericht 2020, in dem die Kurve zu finden ist. Lesen Sie auch: Lehrerin mit Corona-Risiko: „Will mich nicht verkriechen“

Schulabbrecher – oft entsteht das Problem in der Familie

„Es ist ein Befund, den man ernst nehmen muss“, sagt Kai Maaz, Geschäftsführer des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung. Maaz kennt die Daten aus dem Bericht gut – sein Name ist der erste, der auf den alle zwei Jahre veröffentlichten Bildungsberichten steht, auch auf dem jüngsten. Er weiß, dass Schulkarrieren nicht erst kurz vor dem Abschluss scheitern. „Das sind Problemlagen, die sich über viele Jahre aufbauen“, sagt Maaz.

In weiten Teilen entstünden die Schwierigkeiten in der Familie, weil dort vielleicht nicht die Fördermöglichkeiten oder das Interesse an Bildungslaufbahn der Kinder bestünden oder die Situation zu Hause insgesamt schwierig und instabil sei. Doch warum das seit 2013 wieder bei mehr Schülerinnen und Schülern der Fall sein soll, das kann auch er nicht sagen: „Bislang haben wir keine empirischen Erklärungen dafür.“ Auch interessant: Personalmangel in Kitas: Bildung bleibt oft auf der Strecke

Zumindest ein Teil des Anstiegs ist laut Bildungsbericht durch Zuwanderung aus den Jahren 2015 und 2016 zu erklären. Doch der Trend begann vorher und betrifft auch deutsche Jugendliche. Die „wichtige Diskussion“ über andere Gründe für den Anstieg solle auf Grundlage wissenschaftlich abgesicherter Erkenntnisse geführt werden, heißt es auf Nachfrage vom Bildungsministerium. „An zusätzlichen Vermutungen oder Spekulationen wollen wir uns nicht beteiligen.“

Schulabbrecher sind Risikogruppe für Arbeitslosigkeit

Doch weiteren Forschungsbedarf, etwa um herauszufinden, woher der Knick in der Kurve kommt, sieht man beim Ministerium offenbar auch nicht. Von einer Trendwende könne aber jedenfalls nicht gesprochen werden, schreibt das Haus von Ministerin Anja Karliczek (CDU) in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen – schließlich stiegen ja die Bildungsbeteiligung und der Bildungsstand der Bevölkerung insgesamt. Lesen Sie hier: Psychiater schlägt Alarm: Warum Schule Kinder dümmer macht

„Im Bundesbildungsministerium hat man den Ernst der Lage nicht erkannt“, sagt dazu der Grünen-Abgeordnete Kai Gehring, der die Anfrage gestellt hat. „Ministerin Karliczek leugnet die Erkenntnisse der Forscher, die sie selbst beauftragt hat, und setzt auf eine Vogel-Strauß-Politik.“ Das werde zu einer weiter wachsenden Zahl von Menschen ohne Ausbildung führen, die nur sehr schwer Arbeit finden, sagt Gehring. Denn Ungelernte seien die Hauptrisikogruppe für Arbeitslosigkeit. „Eine derartige von der Bildungsforschung prophezeite Chancenungerechtigkeit dürfen wir nicht zulassen“, sagt Gehring.

Mit Corona wird die Situation nicht einfacher

Tatsächlich wird es nach dem Scheitern am Ende der Schullaufbahn für die betroffenen Jugendlichen nicht einfacher. Ohne Abschluss stünden die Chancen auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt schlecht, sagt Holger Seibert, Wissenschaftler am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Auch wenn ein Abschluss formell nicht nötig sei für eine Ausbildung, hätten nur etwa zwei Prozent der aktuellen Azubis keinen. Und das bei einer Ausgangssituation in den vergangenen Jahren, von der sie profitiert haben: „In den letzten Jahren haben die Betriebe händeringend nach Azubis gesucht“, sagt Seibert. Lesen Sie auch: Schule trotz Corona: Das sind die Regeln der Bundesländer

Deshalb waren die Chancen auch für junge Leute ohne Abschluss etwas besser. Doch ob das so bleibt, ist fraglich. Denn die Pandemie macht sich auch auf dem Ausbildungsmarkt bemerkbar, im Sommer seien deutlich weniger Stellen ausgeschrieben gewesen als im Vorjahr, so Seibert. Was Corona langfristig für den Ausbildungsmarkt bedeute, sei noch nicht klar. „Aber einfacher wird es für Jugendliche ohne Abschluss sicher nicht.“