Berlin. Die Sommerferien gehen zu Ende. Doch einige Lehrer können wegen Vorerkrankungen nicht arbeiten. Wir haben mit Betroffenen gesprochen.

Schule ist ein Kraftakt. Gerade in der Corona-Zeit. Und besonders für diejenigen, die bei einer Infektion um ihr Leben fürchten müssen. Lehrer mit schweren chronischen Krankheiten zum Beispiel. Pädagogen wie Isabell Marxen, die an Multipler Sklerose leidet. „Ich möchte mich eigentlich nicht verkriechen“, sagt Marxen. Sie ist Lehrerin in einer Kleinstadt südlich von Hamburg und hat schon vor den Sommerferien nur von zu Hause aus unterrichtet.

Man kann sie am besten per Telefon erreichen, Besuche scheut sie. Wegen der Infektionsgefahr. Während des Telefongesprächs sitzt sie an ihrem Schreibtisch im Homeoffice, der PC läuft. Gerade hat sie Unterrichtsmaterial für ihre Biologie-Klasse vorbereitet, es geht um einen Versuch zur Keimung von Samen. Ob sie dieses Arbeitsblatt den Schülern persönlich austeilen wird, weiß Frau Marxen noch nicht.

Schulbetrieb trotz Corona wieder in vollem Umfang

Im vergangenen Corona-Halbjahr hat Marxen nur von zu Hause aus unterrichtet. Zuerst verschickte sie Aufgaben an ihre Schüler per E-Mail, dann, als Niedersachsen eine Videochatfunktion für Lehrer und Schüler bereitstellte, hat sie versucht, darüber Lernstoff zu vermitteln. Hat über Whatsapp und mit Telefonaten Kontakt zu ihren Schülern gehalten. Auch als die Schulen langsam wieder öffneten.

In Niedersachsensoll jetzt, nach den Sommerferien, wie in allen anderen Bundesländer auch, der Präsenzunterricht wieder in vollem Umfang beginnen. Für Marxen ist das ein Problem: Durch ihre MS-Erkrankung gehört sie zur Gruppe der Risikopatienten. Eine Ansteckung mit dem Corona-Virus ist für sie lebensgefährlich.

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Isabell Marxen gehört zur Risikogruppe für einen schweren Covid-19-Verlauf. Sie kann nicht ohne Gesundheitsgefahr in Präsenz unterrichten. Sie sagt: „Gut geht es mir damit überhaupt nicht.“
Isabell Marxen gehört zur Risikogruppe für einen schweren Covid-19-Verlauf. Sie kann nicht ohne Gesundheitsgefahr in Präsenz unterrichten. Sie sagt: „Gut geht es mir damit überhaupt nicht.“ © Andreas Laible / FUNKE Foto Services | Andreas Laible

Das Zuhausebleiben wegen der flächendeckenden Schulschließungen im Frühjahr war für Marxen nichts Neues. Die Lehrerin konnte schon seit Januar nicht zur Schule gehen – damals hatte sie einen Schub, den ersten seit vier Jahren. Bei einem Schub werden Zellen im zentralen Nervensystem geschädigt. MS-Patienten können dann manchmal nicht richtig sehen, sprechen oder laufen.

Marxen nimmt zur Linderung der Schübe sogenannte Immunsupressiva ein. Die begünstigen einen schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung. Das Risiko sei einfach „nicht einschätzbar“, warnte ihre Ärztin. Von der Krankschreibung schlitterte sie direkt in die Corona-Zeit.

Lehrer sind in der Corona-Krise Ventil für den Frust der Eltern

Oft wurde zuletzt der Vorwurf laut, Lehrer arbeiteten nicht genug, hätten sich gerade in der Corona-Krise weggeduckt und sich nicht gut genug um die Schüler gekümmert. Lehrer sind das Ventil, an dem viele Eltern ihren Frust über das misslungene Corona-Halbjahr ablassen. Doch es gibt auch Lehrkräfte, die unbedingt wieder arbeiten wollen, aber eigentlich nicht können, weil sie zu der Gruppe der Risikopatienten gehören.

Marxen ist Sport- und Biologielehrerin, zum Schutz ihrer Persönlichkeit möchte sie ihren echten Namen nicht preisgeben. Sie würde am liebsten wieder im Klassenraum stehen. Der direkte Kontakt zu den Schülern und das Schulleben fehlen ihr. Mehr noch: „Ich kriege von den Schülern nicht alles mit, wenn ich nicht vor Ort bin.“ Eine von Marxens Schülerinnen litt unter depressiven Verstimmungen – das fiel erst auf, als der Präsenzunterricht schrittweise wieder begann.

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Corona-Risikogruppe: Zahl der Neuinfektionen besorgt

Vor wenigen Wochen noch hatte Marxen gehofft, bei niedrigen Infektionszahlen wieder sorgenfrei in den Job einsteigen zu können. Endlich Schluss mit Videokonferenzen, Whatsapp und E-Mails als Ersatz zum Präsenzunterricht. „Ich liebe meinen Beruf zu sehr, um zu sagen, dann bleibe ich halt einfach daheim“, sagt die Gymnasiallehrerin, ihre Stimme klingt entschlossen. Doch je weiter die Infektionskurve wieder nach oben geht, desto riskanter wird das. „Gut geht es mir damit überhaupt nicht“, sagt Marxen am Telefon.

Die wenigsten allgemeinen Hygienekonzepte der Schulen sind auf Risikogruppen eingestellt: Abstandsregelungen gelten nur in bestimmten Bereichen, Klassen sind in voller Stärke anwesend, Masken müssen in den meisten Bundesländern, wenn überhaupt, nur auf den Gängen getragen werden.

Trotz steigender Infektionszahlen: In der Schule soll es normal laufen

Lehrer, die zur Corona-Risikogruppe zählen, durften bisher in ganz Deutschland im Homeoffice bleiben. Für den Regelbetrieb sollen die meisten von ihnen jetzt wieder unterrichten. Zuletzt war Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) ins Kreuzfeuer geraten, da sie viele Lehrkräfte trotz Attest zurück in die Schule beordert hat.

Vor den Sommerferien hatten sich laut niedersächsischem Kultusministerium rund 19 Prozent der Lehrkräfte von der Präsenzpflicht befreien lassen. Davon gehörten etwa acht Prozent ärztlich bescheinigt zur Risikogruppe, andere ließen sich wegen Angehöriger, Schwangerschaft oder wegen ihres Alters freistellen.

Niedersachsen: Fast 20 Prozent der Lehrkräfte vor den Ferien freigestellt

Wie hoch die Quote der befreiten Lehrer in Niedersachsen nach den Sommerferien sein wird, weiß man im Ministerium noch nicht. In Schleswig-Holstein sind es derzeit nur noch 0,4 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern 1,5 Prozent. In Nordrhein-Westfalen geht man dagegen davon aus, dass rund 4,5 Prozent nicht in Präsenz unterrichten.

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Das niedersächsische Kultusministerium überlässt am Ende den Risikopatienten selbst die Entscheidung, ob sie trotzdem am Unterricht teilnehmen. Marxen ringt seit Tagen mit der Frage, ob sie sich weiter verkriecht oder eventuell ihre Gesundheit gefährdet. Es ist ein Dilemma: Sie möchte unbedingt wieder in die Schule, hat aber Angst.

Lehrer als Risikopatienten: Verkriechen oder die eigene Gesundheit gefährden?

Auch Amelie Schneider möchte anonym bleiben. Sie ist sich ganz sicher: Bevor die Pandemie nicht besiegt ist, geht sie nicht zurück in den Klassenraum. Sie ist Deutschlehrerin und erkrankte vor vier Jahren an Brustkrebs. Sie gilt noch nicht als vollständig genesen. Ihre Erkrankung ging mit zahlreichen Beschwerden einher, die zweifache Mutter zog sich zwei schwere Lungenentzündungen zu, leidet noch heute an Autoimmunerkrankungen.

Die Meldungen aus Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland, wo ein Attest nicht mehr ausreicht, um sich von der Präsenzpflicht befreien zu lassen, lösen bei Schneider Angst und Frust aus: „Es ist doch eben keine Frage von möchten oder wollen, sondern von können und sollen“, sagt Schneider am Telefon. Sie brenne für das Unterrichten und verwehrt sich gegen Lehrer-Ressentiments: „Wer wirklich mit ganzem Herzen Lehrer ist, dem fällt es nicht leicht, der Schule fern zu bleiben.“

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Lehrerin mit Vorerkrankung: „Es fällt nicht leicht, der Schule fern zu bleiben“

Für Schneider ist selbst die eigene Familie ein Risiko. Sie stockt etwas, als sie am Telefon erzählt, wie schwer es ist, ihren Kindern zu erklären, dass sie im Hochsommer nicht ins Freibad können, auch wenn alle Schulkameraden dort sind. Allein dass ihre Töchter jetzt wieder zur Schule gehen, empfindet die Mutter als „bedrohlich“. „Ich bin hin- und hergerissen, weil ich natürlich will, dass sie Kontakte haben und lernen“, so Schneider.

Marxens Kinder waren in der Zeit vor den Ferien tatsächlich die einzigen, die in der Schule eine Maske trugen, berichtet die Lehrerin. Sie sind deutlich älter als Schneiders Töchter, können schon mehr Verständnis dafür aufbringen, dass wegen der Erkrankung ihrer Mutter besondere Vorsicht geboten ist.

Schule in Zeiten von Corona: Zu wenig Abstand und Regeln?

Dass jedoch nicht nur im öffentlichen Leben, sondern auch beim Schulbetrieb auf eine Hygienemaßnahme nach der anderen verzichtet wird, macht der Bio-Lehrerin zusätzlich Sorgen: „Überall heißt es: Abstand, Abstand, Abstand. Dann kann das aber an bestimmten Stellen in der Schule nicht umgesetzt werden und deshalb wird die Regelung einfach aufgehoben. Dafür habe ich kein Verständnis“, sagt Marxen. Lesen Sie mehr zum Thema: Schulstart in den Ländern: Was Schüler beachten müssen

Man hört ihrer Stimme die Ratlosigkeit an: „Mir geht es überhaupt nicht gut damit, dass meine Familie die Lage weiterhin sehr ernst nimmt, während andere darüber die Nase rümpfen und meinen, man solle sich mal nicht so anstellen.“ Doch auch ihre Kinder gehen wieder zur Schule, wollen langsam aber sicher wieder Freunde treffen.

An diesem Mittwoch geht Marxen zur Dienstbesprechung ihres Kollegiums. Sie will sich angucken, wie das Hygienekonzept des Gymnasiums aussieht. Einiges bereitet ihr weiter Bauchschmerzen: Wie soll sie beispielsweise in einem Biologie-Fachraum lüften, in dem sich nur ein einziges Fenster komplett öffnen lässt? Wenn die Klassen vor den Räumen warten sollen, wie soll sie in den engen Gängen des Schulgebäudes Abstand halten?

Marxen ist in sich gegangen. „Im Moment überwiegt das Herz und das sagt, dass ich unterrichten möchte“, sagt sie und holt tief Luft. „Vom Kopf her weiß ich aber eigentlich, dass es richtig wäre, zu Hause zu bleiben.“ Doch ihr fehlt es zu sehr, vor der Klasse zu stehen, mit den Schülern direkten Kontakt zu haben. Marxen will sich nicht mehr verkriechen.

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