Hamburg. Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit hofft, Corona bald gut kontrollieren zu können. Er sorgt sich allerdings um die Gesellschaft.
Der Virologe Prof. Jonas Schmidt-Chanasit vom Hamburger Bernhard Nocht-Institut fürchtet in der Corona-Pandemie eine bedrohliche Spaltung der Gesellschaft nicht nur in Arm und Reich, sondern auch in Jung und Alt. Darauf müsse die Politik Antworten finden.
Der Mediziner plädiert zudem dafür, mit denjenigen, die gegen Corona-Beschränkungen protestieren, ins Gespräch zu kommen. Die Gefahr der Reiserückkehrer sei überschaubar.
Sind wir dabei, den hart erkämpften Erfolg in der Corona-Pandemie, um den uns viele Länder beneiden, zu verspielen?
Prof. Jonas Schmidt-Chanasit: Es gibt durchaus Bürger, die wenig auf die Regeln achten. Generell aber funktioniert das Konzept der stabilen Kontrolle in Deutschland momentan sehr gut. Dazu gehören starke, gut ausgestattete Gesundheitsämter, große Testkapazitäten und natürlich die Einhaltung der AHA-Regeln – Abstand, Hygiene und Alltagsmasken.
Sind manche Menschen der Einschränkungen müde und werden leichtsinnig?
Schmidt-Chanasit: Die gibt es, umso wichtiger ist es, dass die Notwendigkeit der Maßnahmen sehr, sehr gut erklärt wird. Die Bürger haben ein sehr feines Gespür dafür, welche Prävention wirkt. Sie hinterfragen manche Maßnahmen, und das ist auch richtig. Ich erlebe selbst in meinem Alltag Regeln, die aus meiner Sicht als Virologe wenig Sinn ergeben. Wenn ich beispielsweise in Berlin ins Fitnessstudio gehe, muss ich zwischen den Trainingsgeräten eine Maske tragen. Also immer Maske auf, Maske ab, Maske auf, Maske ab – das ist vollkommener Unsinn. In Hamburger Fitnessstudios wird hingegen auf genug Abstand und eine gute Entlüftung geachtet, das ist vollkommen ausreichend. Manche Maßnahmen muss man dann auch korrigieren, damit die Mehrzahl der Bürger sie akzeptiert und das Vertrauen in die Politik behält. Und die Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein, sonst werden sie früher oder später von den Gerichten gekippt.
Wie wichtig sind Masken?
Schmidt-Chanasit: Die Maske ist ein Baustein des Schutzkonzepts, aber sicherlich nicht der entscheidende. Ich finde, wir haben eine sehr starke Fokussierung auf den Mund-Nasen-Schutz. Die AHA-Regel nennt aus gutem Grund Abstand als absolute Priorität. Masken sollten in den Situationen getragen werden, in denen Abstand nicht möglich ist. Manchmal hat man das Gefühl, es dreht sich alles um die Masken.
Müsste man noch schärfer gegen Feiernde durchgreifen?
Schmidt-Chanasit: Ich finde es gut, dass der Alkoholverkauf auf bestimmten Straßen des Schanzenviertels und auf St. Pauli an Wochenenden untersagt ist, um da Ordnung hineinzubringen. Die Gesundheitsämter müssen wissen, wer wann wo war, um im Zweifelsfall Infektionsketten nachverfolgen zu können. Man muss aber auch auf die Wünsche der jungen Leute reagieren. Es gibt eine zunehmende Spaltung in der Gesellschaft. Einmal in Arm und Reich. Wer fordert, derzeit nicht nach Bulgarien zu reisen, soll das einmal einer alleinerziehenden Mutter mit drei Kindern erklären, die sich vielleicht keinen anderen Urlaub leisten kann.
Darüber hinaus nehme ich eine wachsende Spaltung zwischen älteren und jüngeren Mitbürgern wahr. Man kann den jungen Leuten realistischerweise nicht sagen: Jetzt macht ihr mal zwei Jahre lang keine Party! Da muss die Politik eine Antwort finden. Wir haben in Deutschland alle technischen Möglichkeiten, um auch Feiern unter sicheren Bedingungen zuzulassen. Sonst verlagert sich das in die Illegalität – das haben wir bei den Partys gesehen und auch bei der Prostitution. Und damit ist niemandem gedient. Man muss also ein Angebot machen, dann hat man die Feiern im Blick und den jungen Leuten gleichzeitig eine Perspektive gegeben. Ein pauschales Nein ist einfach zu wenig. Nur so können wir eine weitere Spaltung verhindern, die immer tiefer zu werden droht, je länger die Einschränkungen andauern. Ich sehe das als sehr bedrohlich.
Haben Sie Verständnis für Großdemonstrationen wie in Berlin, wo Zehntausende ohne Masken durch die Stadt ziehen und gegen die Beschränkungen protestieren?
Schmidt-Chanasit: Nein, natürlich nicht, auch Demonstranten müssen sich selbstverständlich an die Regeln halten. Aber unter ihnen waren viele verschiedene Gruppen, nicht nur die Aluhut-Träger. Vorbehalte gegen die Corona-Beschränkungen gibt es auch in der Mitte der Gesellschaft. Man muss unbedingt mit denen, mit denen man sachlich diskutieren kann, ins Gespräch kommen und sollte nicht alle pauschal zu Corona-Leugnern erklären. Das bringt uns nicht weiter. Ausgrenzung würde nur zu einer Verstärkung der Vorbehalte führen – und letztlich zu einer größeren Gefahr in der Pandemie.
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Schaffen es die Gesundheitsämter derzeit, Infektionswege gut nachzuverfolgen?
Schmidt-Chanasit: Soweit ich das wahrnehme, funktioniert es. Das bedeutet nicht, dass die Gesundheitsämter nicht weiter gestärkt werden müssten, wenn wir im Herbst mehr Fälle sehen. Da wären mehr Kapazitäten wünschenswert.
Wie groß ist die Gefahr durch Reiserückkehrer?
Schmidt-Chanasit: Offenbar gibt es bei den Reiserückkehrern nur einen kleineren Teil der jetzt festgestellten Neuinfektionen. Nichtsdestotrotz ist es gut, dass die Rückkehrer getestet werden, um Fälle herausfiltern zu können. So lange die Ressourcen dafür vorhanden sind, ist das gut. Wir dürfen Krankenhäuser, Kitas und Pflegeheime aber nicht vergessen, die haben Priorität.
Die Kultur- und die Veranstaltungsbranche brauchten besondere Geduld, vieles läuft jetzt erst an. Ist das der falsche Zeitpunkt?
Schmidt-Chanasit: Nein, die Hygienekonzepte sind gut. Das ist vollkommen in Ordnung. Wir schauen viel zu häufig durch die epidemiologische, virologische Brille. So kommt man nicht durch eine Pandemie. Man muss auch die Grundrechte, die Wirtschaft und das Recht auf Ausbildung mit in den Blick nehmen. Als Virologe würde ich es rein zur Eindämmung der Pandemie am besten finden, wenn alle Menschen wochenlang zu Hause blieben. Aber das ist nicht nur unrealistisch, sondern wäre auch kontraproduktiv, weil es die Wirtschaft weiter schwächen würde und wir uns die Behandlung der Erkrankten irgendwann nicht mehr leisten könnten.
Müssen wir uns statt auf eine zweite Welle auf ein immer neu aufflammendes Infektionsgeschehen einstellen?
Schmidt-Chanasit: Den Begriff der zweiten Welle lehne ich ab, er ist unpräzise und schürt nur Ängste. Das Bild der Welle vermittelt das Gefühl, man werde überrollt und habe keine Kontrolle. Davon sind wir glücklicherweise weit entfernt. Das Konzept der stabilen Kontrolle funktioniert sehr gut, auch wenn wir in einigen Bereichen eine Zunahme der Infektionen haben.
Welches Szenario halten Sie für den Herbst für wahrscheinlich?
Schmidt-Chanasit: Ich besitze keine Kristallkugel. Es ist möglich, dass die Infektionszahlen etwas ansteigen und es zu Schwankungen auf einem höheren Niveau kommt, wir also deutschlandweit 300 oder 600 oder auch mal 800 Neuinfektionen am Tag zu verzeichnen haben werden. Wenn es deutlich darüber hinausginge, stießen wir an Kapazitätsgrenzen. Aber ich hoffe und glaube, dass wir das Geschehen mit dem Konzept der stabilen Kontrolle gut beherrschen können.
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