Brüssel/Berlin. Deutschland übernimmt die EU-Ratspräsidentschaft und muss dabei große Herausforderungen bewältigen. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Europa blickt jetzt mit großen Hoffnungen nach Deutschland: Am Mittwoch übernimmt die Bundesrepublik für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft und ist dann mit dafür verantwortlich, dass sich die 27 EU-Mitgliedstaaten auf gemeinsame Vorhaben verständigen und die Union als Ganzes vorankommt.

„Die Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft sind hoch“, sagt Kanzlerin Angela Merkel selbst. „Die Corona-Pandemie stellt uns vor Herausforderungen beispiellosen Ausmaßes“. Worum geht es eigentlich, was steht für Europa auf dem Spiel? Welche Herausforderungen muss die Kanzlerin bewältigen? Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Was ist eine Ratspräsidentschaft?

Der Rat der Mitgliedstaaten ist eines von drei Machtzentren in der EU, neben der Kommission und dem Parlament. Der Vorsitz wechselt alle sechs Monate unter den großen und kleinen Mitgliedstaaten; im ersten Halbjahr hatte Kroatien den Hut auf. Für Merkel ist es schon die zweite Ratspräsidentschaft nach 2007.

Beim ersten Mal war sie noch etwas mehr Chefin: Erst zwei Jahre später wurde in Brüssel das Amt eines ständigen, hauptamtlichen Ratspräsidenten eingeführt, der bei den entscheidenden Gipfeltreffen der Regierungschefs – dem Europäischen Rat - die Regie führt. Das macht derzeit der Belgier Charles Michel. Die wechselnde Ratspräsidentschaft leitet die Treffen der Fachministerräte – die Bundesregierung kann so Einfluss auf Themenschwerpunkte und Zeitpläne bei den Beratungen der Minister nehmen, ihre Hauptaufgabe ist aber das Moderieren, Vermitteln und Anbahnen von Kompromissen.

Oft ist von der Rolle des „ehrlichen Maklers“ die Rede – was im deutschen Fall eine Gratwanderung bedeutet, denn das bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Land der EU muss stets mehr sein als Moderator, es ist auch als Führungskraft gefragt. Und diesmal ist die politische Verantwortung viel höher als sonst, weil Deutschland den Vorsitz in einer für die EU schwierigen Zeit des Corona-Krisenmanagements übernimmt.

Der Arbeitsaufwand ist so oder so enorm. Die Vorbereitungen haben vor einem Jahr begonnen, 150 Beamte und Diplomaten hat die Bundesregierung jetzt zusätzlich in die Vertretung nach Brüssel entsandt. Motto der Mission: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). © dpa | Kay Nietfeld

Warum ist der Streit ums Geld so entscheidend?

Die wichtigste Aufgabe: Im nächsten halben Jahr müssen sich Rat und Parlament der EU auf einen gigantischen Corona-Wiederaufbaufonds über 750 Milliarden Euro und den Sieben-Jahres-Haushalt geeinigt haben - zusammen geht es um fast zwei Billionen Euro. Das Paket entscheidet zu einem guten Teil, ob der Zusammenhalt Europas erhalten bleibt; scheitert eine Verständigung, dürfte ein vergrößertes wirtschaftliches Leistungsgefälle die Eurozone und die politische Union früher oder später in eine Krise stürzen.

Die Pandemie und ihre Folgen seien die größte Herausforderung in der Geschichte der EU, sagt Merkel. Sie ist zuversichtlich, dass ein legendärer Satz auch jetzt gilt: „Wir schaffen das.“ Die Kanzlerin hat die entscheidenden Vorarbeiten schon vor der Präsidentschaft geleistet: Ihr gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vorgelegter Vorschlag für einen Wiederaufbaufonds mit Zuschüssen über 500 Milliarden Euro, der über Kredite der Kommission bezahlt wird, ist der Kern des gesamten Plans; die EU-Kommission hat das Konzept erweitert und will den Mitgliedstaaten obendrauf noch 250 Milliarden Euro an Darlehen anbieten, sodass insgesamt 750 Milliarden Euro zur Verfügung stünden.

Über die Details gibt es noch großen Streit. Erst müssen sich die Regierungschefs einigen, später muss auf dieser Basis noch eine Verständigung mit dem Parlament gesucht werden. Die Kanzlerin und ihr Stab sind als Vermittler gefragt. Diese Aufgabe hat „absolute Priorität“ für die Bundesregierung, sagt EU-Botschafter Michael Clauß, sie soll „Phase 1“ der Ratspräsidentschaft prägen.

Findet Merkel eine Lösung für den Brexit?

Bis Dezember müssen auch die Nach-Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien abgeschlossen sein. Können sich Brüssel und London bis dahin vor allem auf einen Freihandelsvertrag einigen? Bislang gibt es kaum Fortschritte in den Verhandlungen, sodass viele EU-Politiker den britischen Premier Boris Johnson im Verdacht haben, in Wahrheit gar keinen Vertrag mehr anzustreben. Hier steht die Bundesregierung formell zwar nicht an vorderster Front, die Verhandlungen führt die EU-Kommission nach Leitlinien aller 27 Regierungschefs.

Die Kanzlerin dürfte aber versuchen, in der heißen Phase im Spätsommer und Herbst hinter den Kulissen Kompromisse zu sondieren. In London setzt man große Erwartungen in Merkels Vermittlung. Doch die Kanzlerin muss auch dafür sorgen, dass die Mitgliedstaaten weiter geschlossen beieinander bleiben – während London jetzt versucht, die EU zu spalten und die unterschiedlichen Handelsinteressen der Länder gegeneinander auszuspielen. Deutsche Diplomaten nennen diese Aufgabe „Phase 2“. Botschaft Clauß sagt: „Wenn wir Haushalt, Aufbaufonds und den Brexit geschafft haben, ist die Präsidentschaft erfolgreich gewesen.“

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    Welche Aufgaben sind sonst noch wichtig?

    Jenseits dieser Pflichtthemen wollte die Bundesregierung auch noch eigene Akzente setzen. Eigentlich hatte sie eine prallvolle Agenda vorbereitet, die dann durch Corona über den Haufen geworfen wurde. Ehrgeiz hätte Berlin gern bei der EU-Asylreform, Digitalisierung,, den Beziehungen zu China und zu Afrika gezeigt.

    Die Erwartungen daran sind schon deutlich heruntergeschraubt. Ein großer EU-China-Gipfel in Leipzig im September, der Höhepunkt der deutschen Ratspräsidentschaft werden sollte, ist verschoben. Und bei der Asylreform zögert die Kommission 27 Delegationen gibt.

    Was ist mit dem Klimaschutz?

    Das verspricht ein großes Konfliktthema zu werden. Eigentlich wollte die EU-Kommission im September einen Vorschlag für die Verschärfung der CO2-Reduktionsziele bis 2030 machen, die deutsche Umweltministerin Svenja Schulze (einen neuen Vorschlag immer weiter hinaus; nur auf Grundlage eines Kommissionsentwurfs können die Mitgliedstaaten aber beraten. Deutsche Diplomaten erklärten deshalb schon, dass die Asylreform auf keinen Fall bis Jahresende unter Dach und Fach sein wird.

    Ganz allgemein kämpft die Bundesregierung mit einem Handicap: Wegen Corona können bestenfalls ein Drittel der sonst üblichen Ratstreffen in Brüssel stattfinden, schon weil es unter den neuen Abstandsregeln nicht genügend große Räumen für die jeweils SPD) wollte im Umweltrat die Mitgliedstaaten auf ein gemeinsames Ziel verpflichten.

    Doch im EU-Parlament formiert sich Widerstand, die EVP-Fraktion als größte Gruppe bremst und fordert Rücksicht auf die durch Corona angeschlagene europäische Wirtschaft. Erst müsse die Kommission überzeugend darlegen, dass die Klimaziele ohne Schaden für die Wirtschaft umsetzbar seien, sagte EVP-Fraktionschef Manfred Weber unserer Redaktion. Die Grünen fordern dagegen, die Bundesregierung müsse die Klimapolitik zum „Herzstück“ der Ratspräsidentschaft machen.