Brüssel. Mit der Ratspräsidentschaft wird Deutschlands Macht in der EU sichtbar. Europa kann nun dabei zusehen, wie Kanzlerin Merkel führt.
Wird die Bundeskanzlerin zum Ende ihrer Amtszeit noch leichtsinnig? Eines ihrer Erfolgsgeheimnisse war ja bislang ein gutes „Erwartungsmanagement“, wie sie es nennt: Zielstrebig die Erwartungen ans politische Handeln so zu begrenzen, dass das Ergebnis fast immer als Erfolg bewertet werden kann. Also lieber tiefstapeln, als zu viel versprechen.
Doch wenn Deutschland unter Angela Merkels Führung ab Mittwoch die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union übernimmt, spricht die Kanzlerin selbst von großen Erwartungen in Europa und von beispiellosen Herausforderungen, die es zu bestehen gilt.
Das ist auf den ersten Blick umso erstaunlicher, als die Ratspräsidentschaft zwar früher große Bedeutung hatte, heute aber in ihrer eigentlichen Funktion überschätzt wird. Wer weiß schon, dass diese Verantwortung im Rat der Mitgliedstaaten zuletzt Kroatien, davor Finnland und Rumänien zufiel?
Ihr Einfluss war überschaubar. Seit einem Jahrzehnt führen hauptamtliche Ratspräsidenten Regie bei den EU-Gipfeln, die rotierende Präsidentschaft leitet nur noch die Zusammenkünfte der meisten, nicht mal aller Fachminister.
Deshalb die ganze Aufregung? Nein. Bei Deutschland liegt der Fall anders. Das mit Abstand stärkste EU-Land hat ja ohnehin und ständig eine Führungsrolle in Europa, die es mal mehr und mal weniger ambitioniert ausfüllt. Üblicherweise spielt sich das diskret und hinter den Kulissen ab.
Überlebensfrage Europas
Während der Ratspräsidentschaft aber kann Europa endlich dabei zusehen, wie Deutschland seine Macht einsetzt und führt. Die Bundeskanzlerin steht im Rampenlicht. Und kann auf offener Bühne weniger als sonst deutsche Interessen vertreten, sondern muss Brückenbauerin sein, Kompromisse schmieden. Ausgerechnet in einer Zeit, in der Europa die verheerenden Folgen der Corona-Krise bewältigen muss, die einige Staaten mit viel größerer Wucht getroffen hat als Deutschland.
Man sollte nicht jede Herausforderung zur Überlebensfrage Europas erklären. Aber hier geht es tatsächlich darum, ob die Union wirtschaftlich und politisch zusammenhält – oder ob ein größer werdendes ökonomisches Gefälle einerseits, ein neuer Trend zum nationalen Egoismus andererseits die Fundamente unterspülen.
Die Kanzlerin ist offenbar entschlossen, diese Herausforderung anzunehmen – und Europa aus dieser Krise zu führen. Mit dem Vorschlag eines 500-Milliarden-Wiederaufbaufonds hat Merkel im Schulterschluss mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Grundstein für eine solidarische Lösung gelegt; dafür wurden frühere rote Linien für Transfers in der Europäischen Union entschlossen überschritten.
Es geht darum, die wirtschaftliche Leistungskraft in Europas Binnenmarkt nicht nur zu erhalten, sondern auf wichtigen Zukunftsfeldern zu stärken, um im Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten und China aufzuholen und später die geostrategische Rolle zu spielen, von der man jetzt schon träumt.
Merkel besitzt die größte europapolitische Erfahrung unter den Regierungschefs
Merkel hat dabei eine Schlüsselrolle, unabhängig von der Ratspräsidentschaft. Die Kanzlerin des mächtigsten EU-Staates besitzt mit Abstand die größte europapolitische Erfahrung unter den Regierungschefs. Und sie hat ihr politisches Kapital durch ein ordentliches Pandemie-Management noch erhöht, was ihr in Berlin die erforderliche Beinfreiheit verschafft.
Bei allem Gewicht, das Merkel in die Waagschale werfen kann, wird auch sie aber nur Erfolg haben, wenn die anderen Mitgliedstaaten mitziehen. Deshalb spricht die Kanzlerin nun so offen über die großen Erwartungen und das, was auf dem Spiel steht: Es ist nicht nur für Berlin eine Verpflichtung, sondern für alle 27 EU-Regierungschefs.
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