Washington. Geheimdienste wollen wissen, dass Kopfgeld auf US-Soldaten in Afghanistan ausgesetzt wurde. Warum kam keine Reaktion von Donald Trump?
Wusste US-Präsident Donald Trump seit Monaten von „Kopfgeldern“, die Russland an die Taliban und anverwandte Netzwerke für das Töten von US-Soldaten in Afghanistan ausgelobt haben soll, und blieb trotzdem tatenlos? Dieser Verdacht erschüttert Washington vier Monate vor der Präsidentschaftswahl.
Nach einem Initial-Report der New York Times haben Washington Post, Wall Street Journal, die Nachrichtenagenturen „ap“ und Reuters sowie diverse Nachrichten-TV-Sender von CNN über NBC bis CBS unter Berufung auf US-Geheimdienste und Regierungsoffizielle die Substanz der schwerwiegenden Vorwürfe bestätigt.
Am Montagabend folgten teilweise spektakuläre Ergänzungen, die Trump und seine Regierung in ein denkbar ungünstiges Licht rücken. Der Präsident streitet bislang alles ab. Im Kongress wachsen Argwohn und Klärungsbedarf. Die wichtigsten Details und offene Fragen auf einen Blick:
Wie soll Russland die Provokation gegen Amerika organisiert haben?
Mit Hilfe derselben Spezialeinheit des auf Präsident Wladimir Putin verpflichteten Militärgeheimdienstes GRU, der 2018 auch für den Gift-Anschlag auf den Ex-Spion Sergej Skripal und dessen Tochter in England verantwortlich gemacht wird.
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Gab es zuletzt gefallene US-Soldaten in Afghanistan?
2019 starben 20 GIs am Hindukusch, ein Jahr zuvor waren es 18. Insgesamt fanden seit 2001 rund 2400 US-Soldaten in Afghanistan den Tod.
Gibt es Indizien, dass tatsächlich Kopfgelder gezahlt wurden für getötete US-Soldaten?
Ja. „Washington Post“, „New York Times“ und die führende Nachrichten-Agentur „Associated Press“ (ap) stellen diesen Zusammenhang unter Berufung auf US-Geheimdienstquellen her.
Was war der Auslöser?
Im April 2019 wurden drei US-Soldaten auf dem Weg zum Flugplatz Bagram, dem größten US-Stützpunkt in Afghanistan, durch ein mit Bomben gespicktes Auto getötet, drei weitere wurden verletzt. Die Taliban beanspruchten die Urheberschaft. Geheimdienste schauten sich den Zwischenfall genauer an und bekamen Zweifel.
Anfang 2020 stürmte die Elite-Einheit der Navy, das Seals-Team 6, eine Taliban-Stellung und entdeckte dabei rund 500.000 US-Dollar. Dieser Fund gab den Ausschlag, dem Verdacht nach Kopfgeldzahlungen aus Moskau an die Islamisten intensiver nachzugehen.
Die Toten von 2019, allesamt Marines, waren Christopher Slutman (43), Benjamin Hines (31) und Robert Hendriks (25). Hendriks’ Vater Erik sagte gegenüber „ap“, dass der Fall unter den Teppich gekehrt werden sollte. „Ich habe jeden Respekt für diese Regierung verloren.“
Wie kamen US-Stellen Russland auf die Spur?
Gefangen genommene Taliban verschiedener Stämme und andere Kriminelle in Afghanistan sollen in Verhören entsprechende Aussagen gemacht haben.
Was geschah mit den sensiblen Informationen?
Nach übereinstimmenden Medienberichten wurden die Informationen auf den vorgeschriebenen Dienstwegen nach Washington weitergegeben, „bis in höchste Regierungskreise“, wie die New York Times zuerst schrieb. Trump sei persönlich unterrichtet worden. Auch im täglichen Geheimdienstdossier „PDB“ (das Trump nach eigenen Angaben so gut wie nie liest), sei der Vorgang vermerkt worden.
Ende März, mitten in den Verhandlungen zwischen Washington, Kabul und den Taliban über einen dauerhaften Waffenstillstand plus weiteren US-Truppenabzug, habe der Nationale Sicherheitsrat (NSC) im Weißen Haus das heikle Thema behandelt und verschiedene Handlungsoptionen für Trump entwickelt. Von denen bis heute keine einzige realisiert worden sei.
Was sagt Trump?
Mit fast zwei Tagen Verspätung erklärte der Präsident am Sonntag, er und sein Vize Mike Pence seien in keiner Weise über „so genannte Attacken Russlands auf unsere Truppen in Afghanistan“ unterrichtet worden. Davon war nie die Rede. Es ging ausschließlich um die Rolle Moskaus als Geldgeber für die Taliban.
In gewohnter Manier zog Trump die Primär-Quelle New York Times in Zweifel, sprach von einer erfundenen Geschichte. Am Sonntagabend dann eine überraschende Akzentverschiebung. Trump behauptete, ebenfalls auf Twitter, dass die Geheimdienste ihm just gesagt hätten, dass sie ihn persönlich nicht über die Kopfgeld-Vorwürfe informiert hätten, weil sie sie nicht für „glaubwürdig“ gehalten hätten.
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Warum gibt es Zweifel an dieser Darstellung?
Trumps Sprecherin Kayleigh McEnany hatte am Samstag mit keiner Silbe den Kern der Geheimdienste-Expertise angezweifelt. Sie, wie auch der neue Geheimdienstkoordinator John Ratcliffe, arbeiteten nur heraus, dass Trump persönlich nicht darüber informiert gewesen sei.
Dagegen sagte Trumps bis vor Kurzem als oberster Geheimdienstkoordinator tätig gewesene Gefolgsmann Richard Grenell, Ex-Botschafter in Berlin, apodiktisch, er habe „nie“ von dem Verdacht „gehört“. Das weicht von Trumps Darstellung ab, dass die Geheimdienste die Vorwürfe nicht für seriös genug gehalten hätten.
Ist das alles?
Am Montag fügte Regierungssprecherin McEnany eine neue, für Experten überraschende Lesart hinzu: Trump sei deshalb bisher nicht involviert worden, weil es innerhalb der 17 US-Geheimdienste kein einhelliges Bild über den Sachstand gebe. „Es gibt abweichende Meinungen.“ Insider, die wissen, dass etwa die NSA (Abhören, Daten abschöpfen) und die CIA (Verhaftungen, physische Verhöre) sehr unterschiedlich an ihre Informationen kommen, halten das für eine bewusste Irreführung.
Dass sich die Dienste hundertprozentig einig seien, sei der Ausnahmefall, sagten Ex-Mitarbeiter im US-Fernsehen. Die Schwere der Vorwürfe hätte es erforderlich gemacht, Trump auch über einen noch nicht kompletten, abgerundeten Sachstand unverzüglich ins Bild zu setzen.
Und das ist nicht geschehen?
Doch. Laut Nachrichten-Agentur „ap“ haben – abseits des täglichen Geheimdienst-Dossiers – sowohl der frühere Nationale Sicherheitsberater John Bolton, der just ein spektakuläres Enthüllungsbuch über seine Zeit im Weißen Haus veröffentlicht hat, als auch dessen Nachfolger Robert O`Brien Trump persönlich über den Kern der russischen Aktivitäten in Afghanistan unterrichtet. O`Brien bestreitet das. Bolton lehnte einen Kommentar dazu ab.
Was ist noch irritierend?
Die Geheimdienste Großbritanniens, das ebenfalls Truppensteller in Afghanistan ist, sind von ihren US-Kollegen bereits ins Bild gesetzt worden, wie unter anderem die BBC in London meldet. Auch anderen Truppensteller-Länder wie Deutschland sollen in der vergangenen Woche auf Nato-Ebene in Brüssel mit dem Vorgang in groben Zügen vertraut gemacht worden sein.
Dass Trump vier Tage nach dem ersten Medienbericht noch nicht sprachfähig ist, weil: nicht offiziell gebrieft, mutet aus Sicht von Afghanistan-Experten im US-Außenministerium „sehr merkwürdig“ an. Auch dass sich bisher weder Verteidigungsminister Mark Esper noch Mark Milley, Vorsitzender des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte, geäußert haben, sei ungewöhnlich.
Was sagt der Auslandsgeheimdienst CIA?
CIA-Chefin Gina Haspel dementierte in einer bemerkenswert allgemein gehaltenen und doch vielsagenden Stellungnahme am Montagabend die Berichte über eine russische Verwicklung in bezahlte Attentate auf US-Soldaten nicht. Ohne Russland zu nennen, sagte sie, würden sich „feindliche Staaten“ in Kriegsgebieten „Vertretungen“ (proxies) bedienen, „um US-Interessen und US-Soldaten zu schaden“.
Wie reagiert die Politik?
Irritiert bis empört – und das beinahe parteiübergreifend. Die Demokraten sehen in Trumps Verhalten ein Führungsversagen, das für sich genommen fast die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens rechtfertigen würde. Vereinzelt fallen sogar die Wörter „Landesverrat“ und „Rücktritt“.
Russland unter Putin zurück in den Kreis der führenden Industrie-Nationen holen zu wollen (jetzt G 7), wissend, dass Moskau für die Ermordung von US-Soldaten durch die Taliban in Afghanistan Kopfgelder anbiete, sei „schockierend“ und ein Verstoß gegen den Amtseid.
Und die Republikaner?
Die sonst übliche Schützenhilfe für Trump blieb bislang aus. Michael McCaul, Sprecher im Auswärtigen Ausschuss des Repräsentantenhauses, bestätigte nach einer Unterrichtung nur für handverlesene republikanische Abgeordnete im Weißen Haus die Medienberichte wie auch die offizielle Öffentlichkeitsarbeit des Weißen Hauses. Der Texaner sagt: „Wenn die Geheimdienst-Erkenntnisse bestätigt sind, muss die Regierung zügige und ernsthafte Schritte unternehmen, um die Russen zur Verantwortung zu ziehen.“
Am Dienstagmorgen soll eine Delegation der oppositionellen Demokraten ebenfalls in den Genuss einer Unterrichtung im Weißen Haus kommen.
Was sagt Moskau?
Der Kreml reagierte wie schon bei früheren Anlässen, etwa den Mordvorwürfen im Fall Skripal, mit Spott und Häme. Tenor: alles erlogen von amerikanischer Medien-Seite, um Russland in Misskredit zu bringen. Wörtlich hieß es: „Diese unausgereifte Fabrizierung illustriert deutlich die geringen intellektuellen Fähigkeiten der Propagandisten des amerikanischen Geheimdienstes, die, anstatt etwas Plausibleres zu erfinden, diesen Unsinn erfinden müssen.“
Die diplomatische Außenstelle Russlands in Washington erklärte, es habe aufgrund der Medienberichte Todesdrohungen gegen Botschaftsmitarbeiter in Washington und London gegeben.
Was sagen die Taliban?
Auch sie weisen die unterstellte Verbindung nach Moskau kategorisch zurück. Man sei im Dschihad gegen die Besatzer aus Amerika nicht auf die „Wohltätigkeit“ fremder Geheimdienstorgane angewiesen. Über die Tatsache, dass die Islamisten bei Anschlägen in der Vergangenheit in vielen Fällen mit kriminellen Netzwerken (Hakkani/Pakistan etc.) kooperiert haben, fiel kein Wort.
Warum ist das alles für Trump gefährlich?
Der Verdacht, dass der Commander-in-Chief die Augen davor verschließt, dass Rivale Russland in Afghanistan Geld zahlt, wenn US-Soldaten getötet werden, ist per se verheerend. Trump lobt das Militär nach außen bei jeder sich bietenden Gelegenheit über den grünen Klee. Erst vor wenigen Tagen hielt er in der Militär-Akademie von Westpoint die traditionelle Rede für die Abschlussklasse 2020.
Gleichzeitig steht er seit Beginn seiner Präsidentschaft im Verdacht, Russlands Präsident Putin bei jeder Gelegenheit mit auffallender Nachsicht zu begegnen; selbst bei erwiesenen feindlichen Aktionen wie der Beeinflussung der US-Wahl 2016 durch russische Akteure.
Wenn Trump nun vorgibt, nicht gebrieft worden zu sein, anstatt der „ungeheuerlichen Angelegenheit“ umgehend auf den Grund zu gehen, komme das einem Offenbarungseid gleich, sagen führende Demokraten wie Nancy Pelosi oder Joe Biden.
Susan Rice, Ex-Sicherheitsberaterin der Vorgänger-Regierung von Barack Obama, attestiert Trump „tödliche Inkompetenz“. Kongress-Abgeordnete stellen diese Frage: „Scheuen engste Mitarbeiter den Präsidenten mit Informationen zu konfrontieren, die er nicht hören will und mit denen er nicht professionell umgehen kann?“