Berlin. Maike Lunna wurde mit neun sexuell missbraucht. Die rechtliche und psychologische Aufarbeitung ist in ihrem Fall besonders schwer.

  • Maike Lunna ist neun Jahre alt, als sie mit dem Sohn der Gastgeber in den Keller geschickt wird. Dort sollen sie spielen.
  • Erst 37 Jahre später wird ihr bewusst, dass er sie dort mehrfach sexuell missbraucht hat.
  • Strafrechtlich ist der Fall verjährt, psychologisch aber nicht. Immer wenn sie heute Männer mit Halsketten sieht, wird ihr übel.

Maike fährt mit ihren Eltern im Auto, sie sitzt hinten auf der Rückbank. Es geht zu den Freunden, mit denen ihre Eltern immer feiern und trinken.

Eine halbe Stunde später. Ihre Eltern haben ihre Plätze eingenommen, mit dem anderen Paar rund um den Couchtisch. Die andere Mutter sagt: „Geht runter in den Keller, spielen.“ Maike bleibt vor dem Tisch stehen, antwortet: „Ich will nicht spielen. Wir spielen nicht.“

Maike ist neun Jahre alt, der Sohn der Gastgeber ist älter, 13, 14 oder 15. Keiner fragt nach – was macht ihr sonst da unten, wenn ihr nicht spielt?

Die Mütter sagen nur: „Geht runter, nervt nicht.“ Der Sohn nimmt Maike an die Hand. Im Keller sind keine Spielsachen. Aber ein Bett. Er sagt mit kieksender Stimme: „Wir spielen jetzt Mann und Frau.“ Sie sagt: „Nein, ich will nicht.“ Er sagt: „Das ist doch schön.“ Er drückt sie runter, kommt von rechts, legt sich auf sie, schiebt ihren Pulli hoch, die Hose runter, hält sie fest. Er dringt mit der Hand in sie ein.

Dann ist Maike weg und trotzdem noch da. Maike lässt es über sich ergehen, über ihren Körper. Ihr Geist wandert an die Kellerdecke, sie sieht sich und den Jungen von oben.

Missbrauch von Kindern verjährt rechtlich – psychologisch nicht

40 Jahre später. Maike Lunna weiß nicht, wie lange der Missbrauch damals gedauert hat. Sie erinnert sich an Reaktionen ihres Körpers und an Szenen. Aber sie hat Lücken, was die Zeit betrifft und den kompletten Ablauf. Sie weiß aber inzwischen, dass sie von dem Jungen sexuell missbraucht wurde. Das ging über etwa ein Jahr, an vier, fünf Abenden war sie ihm ausgeliefert. „Oliver“ soll er zum Schutz seiner Persönlichkeit in diesem Text heißen.

Lunna erzählt am Telefon ihre Geschichte. Eine Geschichte von Missbrauch und Vergessen. Eine Geschichte vom Versuch, mit dem Geschehenen weiterzuleben und Hilfe dafür zu bekommen. Und eine Geschichte, die davon erzählt, wie schwer es ist, nach mehr als 30 Jahren noch Recht vor dem Gesetz zu bekommen, denn der sexuelle Kindesmissbrauch, den Maike Lunna erlebt hat, ist strafrechtlich verjährt.

Maike Lunna ist heute 49 Jahre alt und lebt im Raum Hamburg. Sie ist zwar Illustratorin, arbeitet aber gerade als Fahrschullehrerin. Sie ist noch dabei aufzuarbeiten, was ihr als Neunjährige an mehreren Abenden in dem Keller passiert ist. Denn sie hatte es lange vergessen. 37 Jahre lang war ihr nicht bewusst, dass sie missbraucht wurde. Erst im Alter von 46 tauchte die Erinnerung auf, plötzlich war da Gewissheit: „Ich wurde mit ihm in den Keller geschickt.“

Maike Lunna, 49, wurde als Kind sexuell missbraucht. Sie konnte sich erst 37 Jahre danach erinnern.
Maike Lunna, 49, wurde als Kind sexuell missbraucht. Sie konnte sich erst 37 Jahre danach erinnern. © Privat | Privat

Missbrauch: Stirbt das Kind, gilt 30-jährige Verjährungsfrist

Rechtlich ist es teilweise schon zu lange her, um noch vor einem Gericht zu klagen. Auf Nachfrage erklärt der Strafrechtsexperte Professor Wolfgang Mitsch von der Universität Potsdam: Dass im Strafrecht die Verjährungsfrist bei sexuellem Kindesmissbrauch bei zehn Jahren, in schweren Fällen bei 20 Jahren liegt. Stirbt das Kind infolge des Missbrauchs, beträgt die Frist 30 Jahre.

Einberechnen muss man noch, dass bei sexuellem Kindesmissbrauch die Verjährungsfrist bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers „ruht“, die Frist also nicht läuft. Aber: „Wenn eine Frau oder ein Mann erst im 50. Lebensjahr davon erfährt, dass sie oder er als Kind Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden ist, ist die Tat tatsächlich bereits verjährt“, so Mitsch.

Debatte über Gesetzesverschärfung bei Kindesmissbrauch:

Das, was bei Maike Lunna diagnostiziert wurde, nennen Ärzte und Psychologen Dissoziative Amnesie. Dr. Myriam Thoma arbeitet und forscht zu Kindheitstraumata, auf Nachfrage unserer Redaktion erklärt die Wissenschaftlerin von der Universität Zürich, welche Funktion diese Art der Amnesie hat: „Ein solches Vergessen kann ausgelöst werden, wenn eine Person ein traumatisierendes Ereignis erlebt und die Situation als unerträglich empfindet.“ Die Person fühlt sich handlungsunfähig oder wurde dazu gemacht und kann nicht aus der Situation fliehen. Die Psyche ist überfordert und die Dissoziation wird als Lösungsversuch der Psyche beschrieben, um sich zu schützen und die emotional sehr schwere Situation zu bewältigen.

Wie der sexuelle Missbrauch 37 Jahre später heraus kam

Maike Lunna stand im März 2017 vor einem Scherbenhaufen. Ihr Mann liebte eine andere, es flog auf, die Ehe war am Ende. Der Betrug ihres Mannes setzte ihr stark zu. Den Schmerz beschreibt sie heute wie eine offene Wunde, in der permanent gestochert wird. Sie hatten geheiratet als sie 27 Jahre alt war. Er sei ihrem Vater sehr ähnlich gewesen, auch Arzt, auch ein Versorger, Absicherung ja, aber kaum emotionale und körperliche Nähe.

Viele lange Jahre konnte sie seine Berührungen nicht ertragen. „Trotzdem war die Affäre für mich ein Schock“, sagt sie. „Ich war drei Wochen außer mir, bis Oliver hochkam – und ich glaube, dass er genau deshalb kam.“

An dem Abend als „Oliver hochkam“, saß sie allein auf dem Sofa. Sie sah die ersten Szenen, Bilder wie Blitze, nicht alles sofort. „Ich musste weinen, würgen, immer wenn ich in der ersten Zeit versuchte, jemandem davon zu erzählen.“ Auszusprechen, was sie jetzt wusste, war wie Steine aus einem Berg herausbrechen.

Sexueller Missbrauch in der Kindheit und Jugend, werden häufig aus Scham, eigenen Schuldzuweisungen oder fehlenden Personen, welchen man sich anvertrauen kann, nicht offenbart, erklärt die Myriam Thoma von der Uni Zürich. „Untersuchungen zeigen, dass durchschnittlich 15 bis 20 Jahre zwischen dem sexuellen Missbrauch und der Offenbarung dieses Missbrauchs liegen und dass 60 bis 70 Prozent der Betroffenen erst im Erwachsenenalter über erlebten sexuellen Missbrauch in der Kindheit berichten“, so Thoma. In dieser langen Zeitspanne leiden die Betroffenen unter diesem dunklen Geheimnis häufig sehr stark.

Maike Lunna: „Ich erinnerte mich wieder an seine Hände, überall“

Als „Oliver hochkam“, das ist der Begriff, den sie für den Moment der Erkenntnis benutzt, war sie schon in Therapie, versuchte eigentlich, die Trennung von ihrem Mann zu verarbeiten. Bei der nächsten Sitzung spuckte sie den Missbrauch aus, Stück für Stück kam mehr zum Vorschein.

„Ich erinnerte mich wieder an seine Hände, überall“, wenn sie jetzt darüber spricht, stockt Maike Lunna manchmal der Atem und sie holt schnell Luft. Das ist dann ein Zeichen, dass das jetzt gerade zu viel Erinnerung war. Die Hände hat sie nach den Malen im Keller noch überall auf sich, an sich und in sich gefühlt.

„Er hat er immer gesagt: Ich könnte es ruhig erzählen, es würde mir eh keiner glauben.“ Das, was sie dann gemacht hat, hat ihr geholfen in dem Moment. „Ich bin dann immer geistig ausgestiegen“, erklärt sie.

Wie fest er sie angefasst haben muss, fühlte sie später in ihrem Kinderbett. Sie lag dann da und hielt sich mit beiden Händen zwischen den Beinen fest. „Ich habe mich nicht mehr getraut zu trinken, weil ich nicht Pipi machen wollte, weil das so höllisch gebrannt hat.“

Sie weiß noch, wie sie einmal auf der Rückfahrt nach Hause hinten auf der Rückbank gesessen habe. Sie war starr und hoffte sehr, dass sich ihre Mutter zu ihr umdreht. Und sie sieht, was los ist. Die Mutter hat sich nicht umgedreht.

Sie weiß auch noch, dass der Vater von Oliver immer eine Halskette trug, die konnte sie sehen, weil sein Hemdkragen geöffnet war. Er schwitzte. Bis heute erträgt sie keine Ketten bei Männern. Dann wird ihr kotzübel.

Sexueller Missbrauch und wie die Gesellschaft damit umgehen sollte:

Das Mädchen dringt nicht zu ihren Eltern durch

Ob die Eltern damals doch etwas gemerkt haben oder wussten, was im Keller passiert, das weiß Maike Lunna nicht wirklich. Sie kann es ahnen. Als ihr der Missbrauch im Keller vor drei Jahren wieder einfiel, konfrontierte sie ihre Eltern, fragte, was sie wissen. „Was ich zu hören bekam, war immer wieder anders“, erklärt Maike Lunna.

Mal habe die Mutter gesagt: „Ja, der hat dich angegrabscht, das hast du mir mal erzählt.“ Woraufhin man den Kontakt zu den Freunden abgebrochen hätte. Ein anderes Mal sei der Alkoholismus der anderen Mutter der Grund gewesen, warum man später nichts mehr miteinander zu tun gehabt habe. Bei der Polizei, bei den anderen Eltern war man nicht, auch wurde der Sohn nicht angesprochen.

Das Mädchen wird als Reaktion schlecht in der Schule, leidet unter Panikattacken. Bekommt Verstopfung, weil sie nicht trinken will, wegen der brennenden Scheide. Die Mutter schickt sie einmal zu einem Therapeuten, der soll feststellen, ob sie Konzentrationsschwierigkeiten hat. Maike Lunna bekommt einen Satz mit: „Das Kind braucht mehr Liebe.“ Konzentrationsschwierigkeiten habe er nicht feststellen können.

Welche Schuld tragen die Eltern?

Die Mutter ist damit zufrieden, und der Vater? „Er hatte genug mit sich zu tun.“ Auf ihren Vater hat sie lange nichts kommen lassen. Doch dass sie sich Oliver und dem Missbrauch so ausgeliefert gefühlt habe, sich nicht wehren konnte, habe auch etwas mit ihrem Vater zu tun. „Mir wurde zu Hause körperlich und seelisch Schaden zugefügt. Ich habe daraus gelernt, dass ich keine Grenzen setzen darf“, mehr möchte sie zu ihrem Vater nicht sagen – und kann sie vielleicht auch noch nicht.

Sie fängt sehr früh an, sich mit Jungs einzulassen. Lunna geht so weit, dass sie sagt: „Ich habe mich regelrecht angeboten.“ Sex für Liebe, Sex als Macht, Sex um sich wertvoll zu fühlen, Sex um dazuzugehören, Sex ist ihr Mittel zum Zweck. Aber Freude daran hat sie wenig. Will sie ein Mann, später auch der eigene Ehemann, zwischen den Beinen berühren, windet sie sich heraus. Oft verschafft sie dann im Gegenzug dem Mann Freude, um von sich abzulenken.

Leben mit der Erinnerung und Versuch der Aufarbeitung

Maike Lunna macht seit dreieinhalb Jahren eine Therapie, die Krankenkasse bezahlt das. Noch. Denn schon für die letzte Verlängerung musste sie bei einem Gutachter schriftlich Widerspruch einlegen. In der Regel werden insgesamt 80 Stunden bezahlt, dann ist Schluss. Maike Lunna hat nun einen Antrag auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz gestellt, um weitere Therapiesitzungen nehmen zu können.

Bei all diesen Stellen, ist die Amnesie immer ein Problem. Es geht nämlich auch um die Glaubwürdigkeit des Patienten und wenn der sich nicht an alles erinnern kann, bleiben Fragen offen.

Rechtlich hätte Maike Lunna noch eine Chance: Im Zivilrecht, wo die Verjährungsfrist bei Schadensersatzansprüchen wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung und des Körpers 30 Jahre beträgt. Dort läuft die Verjährungsfrist erst ab dem Moment, an dem der Geschädigte Kenntnis von dem Missbrauch hat. Heißt, wenn jemand erst mit 40 Jahren erfährt, dass er oder sie mit zehn missbraucht wurde, kann die Person bis sie 70 ist, klagen.

Maike Lunna hat ihre Geschichte erzählt, weil sie die Situation der Betroffenen offenbaren will. Gesetzesänderungen, höhere Strafen für Täter, alles richtig, sagt sie: „Aber weiterleben muss ich damit und dabei brauche ich Hilfe – wie so viele andere auch.“