Berlin. Das Corona-Chaos hat Schüler, Eltern und Lehrer viel abverlangt. Im Herbst soll es besser laufen. Welche Weichen gilt es zu stellen?
Ein paar Wochen noch, dann beginnen die Sommerferien. Zeit zum Erholen. Zeit aber auch, um wichtige Weichen zu stellen. Damit die Schulen im Herbst besser gerüstet sind – für Unterricht unter Corona-Bedingungen. Denn: Niemand weiß derzeit, wie die Infektionslage nach den Ferien sein wird. Doch die wichtigsten Lehren aus dem Corona-Chaos der letzten Wochen stehen schon fest. Für viele bedeuten sie: Nachsitzen in den Ferien.
Mutig gehen gerade einige Länder voran und probieren bereits jetzt die Rückkehr in den Regelbetrieb. Andere sind vorsichtiger und bleiben bei einer Mischung aus Präsenzunterricht und Homeschooling. Solange unklar ist, welche Schutzregeln im neuen Schuljahr gelten, solange die Gefahr einer zweiten Infektionswelle besteht, raten Experten, noch nicht von einer flächendeckenden Rückkehr zum normalen Unterricht auszugehen. „Zur Wahrheit gehört“, sagt Stefanie Hubig, Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), „dass wir uns auf mehrere Szenarien vorbereiten müssen.“
Stephan Wassmuth, Vater von fünf Kindern und Vorsitzender des Bundeselternrates, hat konkrete Vorstellungen, wie diese Vorbereitung aussehen muss: „Wir müssen die nächsten Wochen dringend dazu nutzen, die Lehrer dafür fit zu machen“, sagte Wassmuth unserer Redaktion. „Damit sämtliche Lehrer in der Lage sind, mit digitalen Systemen umzugehen und online zu unterrichten, sollten die Sommerferien für Schulungen genutzt werden.“ Dazu könne man auch außerschulische Bildungsträger beauftragen.
Bundeselternrat schlägt Ausweichräume vor
Und: „Für Lehrer, die große Defizite haben, sollten solche Schulungen verpflichtend sein. Das werden viele als Zumutung sehen, doch es gibt Zeiten, in denen man auch mal mehr als 100 Prozent geben muss. Das müssen wir Eltern auch.“ Der Bundeselternrat ist die Dachorganisation der Landeselternvertretungen – als oberster Elternvertreter hat Wassmuths Stimme Gewicht, wenn er mahnt: „Wir müssen uns darauf einstellen, dass das gesamte nächste Schuljahr unter coronabedingten Einschränkungen laufen wird. Möglicherweise werden wir erst im Sommer 2021 wieder zum Regelbetrieb zurückkehren.“
Die Schulen würden dann in jedem Fall anders sein als vor Corona: „Die Pandemie beschleunigt die Digitalisierung, von der wir in den letzten Jahren immer nur geredet haben.“ Heißt: Digitale Fitness sei in jedem Fall nötig.
Da Unterricht nach den Ferien wegen der Abstandsregeln immer noch vor Raumproblemen stehen dürfte, fordert Wassmuth die Schulträger darüber hinaus zu ungewöhnlichen Lösungen auf: „Um möglichst viel Präsenzunterricht für möglichst viele Schüler zu ermöglichen, sollten auch andere Gebäude fürs Lernen genutzt werden: Vereinshäuser, kommunale Veranstaltungsräume, Tagungszentren, Kongressräume in Hotels oder sogar Messehallen.“ Die Schulträger sollten bereits jetzt solche Ausweichlösungen einplanen, damit die Schulen nach den Sommerferien mit mehr Platz starten können.
Lernlücken bei schwachen Schülern schließen
Heinz-Peter Meidinger ist tief besorgt: „Jetzt, da die Kinder wieder zurück in die Schulen kommen, sehen wir deutlich auch die negativen Folgen der Corona-Zeit“, mahnt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. „Wir erleben eine enorme Spreizung bei den Leistungen innerhalb einer Klasse. Es gibt Kinder, die haben keinerlei Defizite, und es gibt andere, bei denen war acht Wochen lang praktisch Sendepause.“
Viele Länder reagieren bereits darauf und planen Ferienangebote, um Lernlücken zu schließen – Sommerakademien, Sommerkurse, Camps. Am schnellsten war Sachsen-Anhalt, wo am Wochenende die Pfingstferien zu Ende gehen. Das Land hat die beiden Ferienwochen als Testlauf für die Corona-Nachhilfe genutzt: Über 90 Prozent der rund 800 Schulen hätten ein freiwilliges Lernangebot auf die Beine gestellt, heißt es aus dem Landesbildungsministerium in Magdeburg.
Oft sei es auch angenommen worden: „Ich habe mir die Ferienbetreuung in zwei Schulen angesehen. Mal saßen zwei Schüler, mal zehn in den Gruppen“, sagt Bildungsstaatssekretärin Eva Feußner. Die Form der Angebote ist dabei sehr unterschiedlich, zum Beispiel Mathe am Montag, Physik am Mittwoch.
Lehrerpräsident: Präsenzunterricht für leistungsschwache Kinder
Lehrerpräsident Meidinger hebt den Daumen: „Es ist gut, dass jetzt einige Länder für benachteiligte Schüler Förderangebote in den Sommerferien anbieten wollen.“ Seine Sorge: „Da das freiwillige Angebote sind, erreicht man nicht unbedingt diejenigen, denen man helfen will. Viele der Kinder, die während Schulschließungen in den letzten acht Wochen kaum noch durch ihre Lehrer zu erreichen waren, nehmen vermutlich auch solche Sommerangebote nicht wahr.“
Wichtig sei deshalb, dass es nach den Sommerferien für leistungsschwache, benachteiligte Kinder eine systematische Förderung gebe: „Sollte es weiterhin einen Wechsel von Präsenzunterricht und digitalem Fernunterricht geben, sollten diese Kinder davon ausgenommen werden. Sie brauchen permanenten Präsenzunterricht, um nicht weiter zurückzufallen.“ Um solche Angebote personell und räumlich bieten zu können, müssten die Schulen bereit sein, auch ungewohnte Wege zu gehen: „Es kann sinnvoll sein, den Unterricht in einigen Nebenfächern eine Zeit lang zurückzustellen, um die Förderung in den Hauptfächern zu ermöglichen.“
Klare Regeln fürs Homeschooling
Wie sollen Lehrer die Leistungen bewerten, wenn sich Schüler den Großteil des Stoffs allein (oder mit den Eltern) zu Hause erarbeiten müssen? Wie sollen sie die Mitarbeit des Einzelnen in den gewöhnungsbedürftigen Videoschalten mit der ganzen Klasse einschätzen?
In den vergangenen Wochen gab es viel Unsicherheit, Ungerechtigkeit, Ärger. „Solange die Schulen noch nicht wieder im Regelbetrieb sind, aber auch für den Fall einer zweiten Infektionswelle brauchen wir klare Regeln für das Homeschooling“, rät Meidinger.
Er meint: verpflichtende Anwesenheit bei Videoschalten mit dem Lehrer, die Pflicht zum Erledigen von Aufgaben und eine einheitliche Regelung zur Vergabe von Noten. „Es darf nicht sein, dass das im Unverbindlichen bleibt beziehungsweise sich hier jede Schule und jedes Land eigene Regeln gibt.“ Forscher der Friedrich-Ebert-Stiftung schlagen zudem vor, über andere Formen der Leistungsbewertung nachzudenken: Individuelles Feedback soll in Corona-Zeiten wichtiger werden als die Bewertung durch Schulnoten.
Studien zum Infektionsrisiko von Kindern nicht eindeutig
Die große Frage ist: Welche Rolle spielen Kinder bei der Übertragung des Coronavirus? Aktuell gibt es keine abschließende Antwort darauf. Mehrere internationale Studien legen den Schluss nahe, dass infizierte Kinder weniger ansteckend sind als Erwachsene.
Doch die Forschungslage ist nicht eindeutig, die bisherigen Studien geben noch nicht genügend Erkenntnisse über das tatsächliche Infektionsgeschehen im Alltag her. Auch deshalb, weil erst mit der Rückkehr der Kinder und Jugendlichen in die Kitas und Schulen eine breite Datenbasis vorliegt. Familienministerin Franziska Giffey (SPD) hat jetzt eine Langzeitstudie in Auftrag gegeben, um die Auswirkungen der Kitaöffnungen zu untersuchen. Die Studie wird vom Robert-Koch-Institut und vom Deutschen Jugendinstitut erstellt und soll im Juni beginnen.
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So lange wollen viele nicht warten: Baden-Württemberg beruft sich jetzt auf erste Ergebnisse von Forschern der Unikliniken Heidelberg, Freiburg und Tübingen, die im Auftrag der Landesregierung 2500 Kinder untersucht haben. Aus Sicht von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zeigt die Studie, dass das Infektionsrisiko in der Notbetreuung nicht größer sei als das Ausbreitungsrisiko bei Kindern, die in den letzten Wochen zu Hause geblieben sind. „Wir können ausschließen, dass Kinder Treiber des Infektionsgeschehens sind.“
Drosten schlägt Tests für Erzieher und Lehrer vor
Der Berliner Virologe Christian Drosten dagegen hat im April erste Ergebnisse einer Studie zur Viruslast von Kindern veröffentlicht und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sie genauso infektiös sein „könnten“ wie Erwachsene.
Mit der Wiedereröffnung von Kitas und Schulen erwartet Drosten nun neue Hinweise auf das Infektionsrisiko: Sollten sich in den nächsten Wochen besonders viele Erzieher und Lehrer anstecken, wäre das ein Indiz für die Virusverbreitung durch Kinder. Und zudem ein Indikator dafür, dass das Virus in der jeweiligen Kita oder Schule unterwegs sei: „Was wir tun müssen, ist, jetzt hier wirklich Diagnostik anzubieten“, fordert Drosten. Jeder Erzieher, jeder Lehrer mit Symptomen müsse sofort getestet werden. Zudem müsse sich jeder Lehrer auch bei einem bloßen Verdacht mindestens einmal pro Woche testen lassen dürfen.
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