Köln. Michael Isfort sieht die Krise in der Corona-Krise noch auf die Kliniken zukommen. Wenn wieder mehr operiert wird, wächst der Druck aufs Personal
Seit 20 Jahren forscht Michael Isfort zur Pflege in Deutschland. Im Gespräch mit Stephanie Weltmann erklärt er, warum die Corona-Krise ein Pflegekrise ist und wieso er den Einsatz von Schulkrankenschwestern fordert.
Seit dem 9. Mai dürfen wir wieder unsere Angehörigen im Pflegeheim besuchen. Warum sollten wir das Risiko eingehen statt die Alten zu schützen?
Weil das Wegsperren für ältere Menschen dramatische Folgen hat. Heute sind Altenheimbewohner älter und schwerer erkrankt als noch vor wenigen Jahren. Angehörige sind für sie wichtige Co-Therapeuten. Dieser Kontakt muss gewährleistet sein. Aber ganz geöffnet sind die Einrichtungen ja auch nicht. Schutzmaßnahmen bleiben weiterhin bestehen und die Wohnbereiche nur in Ausnahmefällen unter strengen Regeln für Angehörige betretbar. Man muss den Angehörigen deshalb jetzt raten: Bitte nehmen Sie unbedingt Kontakt mit der Einrichtung auf, ehe sie einfach vor der Tür stehen.
Die Heime müssen übereilt Schutzmaßnahmen ergreifen – überlastet sie das nicht?
Die stationären Pflegeeinrichtungen haben insgesamt gezeigt, dass sie sehr gut in der Lage sind, ein Infektionsgeschehen zu kontrollieren. Die Pflegekräfte haben Erfahrung mit anderen Viren, die Heime verfügen über Schutzkonzepte. Neu ist aber, dass der Infektionsschutz auf Angehörige ausgedehnt werden muss. Es müssen Listen geführt werden, sie müssen gescreent werden und ggf. mit Schutzmasken versehen werden. Da wird jedes Haus seine Lösung finden müssen und Schutzausrüstung bleibt auch jetzt noch Mangelware. Und ja: Die Geschwindigkeit, mit der Verfügungen verkündet und dann umgesetzt werden sollen, ist atemberaubend. Hier wünschte ich mir mehr Kontakt mit den Einrichtungen im Vorfeld und mehr Zeit, um vorarbeiten zu können. Mittwochs anzukündigen, dass sonntags geöffnet wird, ist tatsächlich eine Überforderung.
Was lernen wir in der Krise über die Pflege?
Die Corona-Krise ist eine Pflegekrise. Sie verdeutlicht einerseits, was gut funktioniert, etwa unser Pflegesystem mit Fachkräften, deren Ausbildungslevel in der Altenpflege sehr viel höher ist als in anderen Ländern. Aber sie zeigt auch, wo wir dringend nacharbeiten müssen.
Nämlich?
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Das fängt bei der Schutzkleidung an, die den Pflegekräften fehlte und fehlt, und geht bis zu den osteuropäischen Haushaltshilfen, die in der Corona-Krise nicht mehr nach Deutschland kommen konnten. Vor allem wurde aber der Bevölkerung deutlich vorgeführt, dass die Pflege dringend mehr Personal benötigt. Die Betreuungssituation ist unter Corona-Bedingungen ja noch härter geworden. Um zusätzliches Personal zu gewinnen, müssen aber die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Das heißt in der Altenpflege auch: einheitliche Tarifverträge.
Immerhin wurde Pflegekräften in der Krise applaudiert und sie erhalten eine Sonderprämie.
Der Applaus war sicher ein schönes Zeichen, die Prämie sicher auch. Was ich kritisiere: Immer dann, wenn Außerordentliches verlangt wird, werden für die Pflege Streicheleinheiten verteilt - aber an die Grundfehler im System will keiner ran.
Inwiefern?
Wir erleben gerade, dass Gesundheitswissen und für Kinder auch Gesundheitserziehung von elementarer Bedeutung für eine Gesellschaft ist. Da muss man ansetzen. Wir brauchen Gesundheitsunterricht an den Schulen. Dazu gehören Schoolnurses, also Schulkrankenschwestern, wie es sie in anderen Ländern längst gibt. Es muss darum gehen, pflegerisches Wissen in die Gesellschaft zu bringen. Nicht einmal in den Gesundheitsämtern ist dieses Wissen vorhanden, das hat Corona gezeigt. Wir dürfen Pflege nicht länger darauf beschränken: Da ist ein alter Mensch und der muss gewaschen werden oder ein kranker, der braucht eine Infusion. Pflege ist so viel mehr, Pflege ist Bewältigung von Krisen. Die Leistungsfähigkeit dieses Berufes wird in Deutschland viel zu wenig abgerufen. Das gilt es zu verändern.
Immerhin in der Krankenpflege ist der befürchtete Notstand ausgeblieben. Wie wurde die Krise hier bisher gemeistert?
In der Krankenpflege sehe ich die eigentlichen Probleme noch kommen. Bisher hatten wir in den Kliniken eine stabile Versorgungslage. Das lag auch daran, dass Betten für Covid-19-Patienten vorgehalten werden mussten, deshalb Operationen abgesagt wurden. Dadurch standen mehr Pflegefachkräfte zur Verfügung. Das wird sich jetzt ändern, wenn die Kliniken Stück für Stück wieder hochfahren können und wieder mehr operiert wird.
Welche Gefahr sehen Sie?
Die Covid-19-Patienten sind ja nicht weg. Diese Menschen müssen weiterhin intensiv behandelt werden und das unter Isolationsbedingungen, die die Arbeit erschweren. Das braucht mehr Personal, das wir nur haben, wenn Kliniken sehr langsam und verzögert auf Normalbetrieb umstellen.
Wie erklären Sie das den Klinikbetreibern, die Insolvenzwellen befürchteten?
Für das einzelne Haus kann ich diese Sorge sogar verstehen. Und Kliniken, die kaum oder keine Covid-19-Patienten behandeln, könnten auch jetzt schon wieder zum Regelbetrieb übergehen. Aber da, wo das anders ist, sind die Arbeitgeber gut beraten, auf ihre Fachkräfte zu hören. Wir dürfen sie nicht verheizen, sonst gehen uns auch diese Menschen für diesen Beruf verloren.
Wie wird die Krise die Pflege also verändern?
Eine große Hoffnung ist, dass die Finanzierung der Krankenpflege endlich geändert wird. Über 15 Jahre lang haben wir in den Krankenhäusern keine Investition in die Pflege erlebt. Zwischen 1995 und 2007 sind fast 50.000 Pflegestellen in den Kliniken abgebaut worden. In unserem jetzigen System sind alle Berufe außerhalb der Medizin für die Kliniken Kostenfaktoren. Sie verdienen mit einer Operation, aber nicht mit der Pflege Geld. Jetzt hat sich gezeigt, welche Schwächen dieses System hat.
Steckt in der Krise also auch eine Chance?
Auf jeden Fall. Auch für die Beschäftigten. Ich habe die Hoffnung, dass ihnen verständlich geworden ist, wie wichtig es ist, ein Sprachrohr zu haben. Bisher sind Pflegekräfte nur wenig organisiert und wenn, dann eher zersplittert in Gewerkschaften und zahlreichen Verbänden. Das hat auch dazu geführt, dass ihre Interessen nicht ausreichend vertreten sind. Ich hoffe, dass Diskussionen um Pflegekammern abebben und deutlich ist, dass die Pflege klare Interessensvertretung braucht.
Im Mai wird der alljährlich Tag der Pflege begangen. Ist das nach allem nun ein Grund zu feiern oder einer zu protestieren?
Beides. Wir können innehalten und uns freuen, dass wir in Deutschland die Pandemie bisher so gut bewältigt haben, dass uns die ganze Welt beneidet. Das ist ein wesentlicher Verdienst der Pflege. Wir können aber nicht zurück zum alten Zustand. Denn dann werden Pflegekräfte zu Hauf sagen: Wir haben außer Applaus vom Balkon nicht viel erhalten. Wir brauchen die Menschen demnächst auf der Straße, um für Pflege einzutreten und hoffentlich nicht mehr auf dem Balkon.