Mexiko-Stadt/Manaus. Abholzung des Regenwaldes, Angriffe auf Ureinwohner: Während der Corona-Krise boxt Brasiliens Präsident Bolsonaro seine Agenda durch.
Anfang Mai wusste Arthur Virgilio nicht mehr weiter. In seiner Verzweiflung richtete der Bürgermeister der brasilianischen Amazonas-Metropole Manaus einen Hilferuf an 20 Staats- und Regierungschefs dieser Welt, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.
Seine Stadt, das gesamte brasilianische Amazonasgebiet und vor allem die Ureinwohner seien der Corona-Pandemie und den Kollateralschäden schutzlos ausgeliefert, sagte Virgilio in einer Videobotschaft. Nur mit medizinischer und finanzieller Unterstützung könnten „die Leben derjenigen gerettet werden, die den Regenwald schützen“, beschwor der Bürgermeister in der Botschaft.
Heftiger Schlag für Präsident Jair Bolsonaro
In Brasilien schießen die Corona-Zahlen nach oben. Bis Donnerstag registrierte die Johns-Hopkins-Universität 190.137 Infizierte und 13.240 Todesfälle. Brasilien ist einer der Hotspots der Pandemie. Das Land wird auf Platz sechs der meistbetroffenen Länder geführt. Das ist ein heftiger Schlag für Präsident Jair Bolsonaro, der das Virus lange Zeit als „harmlose Grippe“ kleingeredet hatte.
Der brasilianische Bundesstaat Amazonas, dessen Hauptstadt Manaus ist, sowie die anderen Anrainerstaaten des größten Urwaldes der Welt sind besonders hart von den Infektionen betroffen. 13 der 20 brasilianischen Städte mit den höchsten Todesraten liegen im Amazonasgebiet. Besonders in der Millionenstadt Manaus sind die Zustände apokalyptisch. Bagger heben immer neue provisorische Friedhöfe aus, Särge werden unter Hochdruck in Massengräbern verscharrt.
Im April stieg die Zahl der Menschen, die an Atemwegserkrankungen starben, um 578 Prozent. Vor allem die Indigenen trifft es hart, denn ihr Immunsystem ist besonders anfällig für das Coronavirus. Zudem hat die Amazonasregion den niedrigsten Prozentsatz an Krankenhäusern in ganz Brasilien. Lesen Sie auch: Indigene im Amazonas-Gebiet zunehmend von Corona betroffen
Coronavirus ist für Indigene nicht die einzige Bedrohung
Aber Corona ist nicht die einzige Bedrohung für die Menschen, die mit und in der „grünen Lunge der Welt“ leben. Die Bäume des Regenwaldes binden jährlich mehr als zwei Milliarden Tonnen Kohlendioxid und sind so ein wichtiger Faktor für die Stabilisierung des Weltklimas. Im Schatten der Pandemie treibt Bolsonaro seine reaktionäre Agenda voran: Abholzung des Regenwaldes, Beschneidung der Rechte der Ureinwohner, Konzessionen an die Waffenlobby und die evangelikalen Gruppen.
„Während gegen die Pandemie gekämpft wird, gehen Landbesetzungen, Rodungen und Angriffe auf die indigene Bevölkerung weiter“, warnt Sonia Guajajara, Leiterin der Articulação dos Povos Indígenas do Brasil (APIB), einer Schutzorganisation der Ureinwohner. „Die illegalen Holzfäller, die Jäger und die evangelikalen Gruppen, die unberührte Völker kontaktieren wollen, sind nicht in Quarantäne.“ Sie nutzten die geringere Aufmerksamkeit für ihre Machenschaften. „Und sie sind die Hauptüberträger des Virus“, so Guajajara. Mehr lesen: Leichen auf den Straßen: So wütet das Virus in Lateinamerika
Immer werden immer mehr an den Rand gedrängt
Seit Bolsonaro Anfang 2019 sein Amt angetreten hat, werden die indigenen Gemeinden von Viehzüchtern, Holzfällern und Goldsuchern, von Hasardeuren, rücksichtslosen Unternehmern und kriminellen Banden immer mehr an den Rand gedrängt. Denn der Präsident hat das Amazonasgebiet und die „Terras Indígenas“, die gesetzlich geschützten Gebiete für die Ureinwohner, rhetorisch quasi zur Ausbeutung freigegeben.
Die Eindringlinge wissen, sie können die Gesetze brechen, ohne dafür belangt zu werden. Denn der Präsident hat die Umweltbehörden und auch die Indigenen-Organisationen gezielt geschwächt, das Personal und die Kontrollen reduziert.
Coronavirus-Pandemie in Brasilien: eine fatale Mischung
In Zeiten der Pandemie ergibt sich aus all dem eine fatale Mischung. Auslöser der Corona-Krise in Südamerika war vermutlich der diesjährige Karneval in Brasilien. Die Verbreitung des Erregers habe etwa in der ersten Februarwoche begonnen, heißt es in einer aktuellen Studie der Stiftung Oswaldo Cruz, des führenden Gesundheitsinstituts des Landes.
Das war mehr als 20 Tage bevor erstmals in Brasilien bei einem Rückkehrer aus Italien die Infektion diagnostiziert worden war. Die Studie lässt die Sorge wachsen, dass es deutlich mehr Infektionsfälle geben könnte als in den offiziellen Statistiken verzeichnet.
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Heftige Amazonas-Feuer im vergangenen Jahr
Die Lage ist umso dramatischer, als sich die Corona-Krise mit der Klimakrise vermischt. „Die Brandrodungen beginnen im Juli, etwa genau dann, wenn Brasilien vermutlich auch den Höhepunkt der Pandemie erleben wird“, warnt Rómulo Batista vom Greenpeace-Büro in Manaus. „Dann potenzieren sich hier die Probleme.“
Noch gut in Erinnerung sind die verheerenden Amazonas-Feuer des vergangenen Sommers, die weltweit Besorgnis auslösten. 2019 zählte das Nationale Institut für Weltraumforschung (INPE) insgesamt 89.178 Amazonasbrände, ein Anstieg von rund 30 Prozent gegenüber 2018. Ursachen des Infernos waren eine Trockenperiode, aber vor allem zunehmende Brandrodungen der Viehzüchter und Großgrundbesitzer.
Auch in diesem Jahr stieg schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie die Abholzung in Amazonien. Demnach wurden von Januar bis März rund 796 Quadratkilometer Regenwald abgeholzt, das ist etwas mehr als die Fläche Hamburgs. 2019 wurden für diesen Zeitraum etwa 526 Quadratkilometer gemessen. Eine Zunahme von 51 Prozent.
Bolsonaro offen für die Legalisierung der Goldsuche
Bolsonaro entsandte am 11. Mai für einen Monat Einheiten der Streitkräfte in die Indigenen- und Naturschutzgebiete Amazoniens, um gegen Holzfäller und Brandroder vorzugehen. Die Militärs haben die Oberhoheit über die dort aktiven Beamten der Umweltbehörde Ibama.
Umweltschützer halten den Einsatz für ein Feigenblatt. Denn er bedeute zugleich die Entmachtung der Umweltbehörde und des Chico-Mendes-Instituts für Biodiversität (ICMBio). Besonders Ibama war von Bolsonaro scharf kritisiert worden, nachdem Einsatztrupps der Umweltbehörde im April Traktoren und Bagger illegaler Goldgräber zerstört hatten. Der Präsident, der sich offen für die Legalisierung der Goldsuche ausspricht, ersetzte führende Ibama-Beamte durch Polizisten und Militärs.
Umweltminister Ricardo Salles machte zudem deutlich, dass er es nicht dulden werde, wenn die Umweltinspektoren weiterhin illegalen Bergbau in den Indigenen-Gebieten verfolgen. Die Regierung hatte erst im Februar ein Gesetz in das Parlament eingebracht, das die Goldsuche in den Schutzgebieten erlaubt. Noch aber hat der Kongress über das Paket nicht abgestimmt.
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