Stockholm. Schweden geht seinen Sonderweg weiter. Kontaktsperren? Lockdown? Gibt es nach wie vor nicht. Doch das Coronavirus zwingt zu Einschränkungen.
„Süddeutsche Zeitung“, „Zeit“, „Handelsblatt“ und viele andere Medien – allesamt berichteten sie, dass angesichts der relativ hohen Todeszahlen im Zusammenhang mit dem Coronavirus nun doch Kontaktsperren und Ausgangsbeschränkungen in Schweden angeordnet werden müssten. Doch nichts dergleichen ist geschehen.
Journalisten der schwedischen Tageszeitung „Dagens Nyheter“ haben sich auf die Suche nach der Quelle der ihrer Ansicht nach in die Irre führenden Berichterstattung über diese Todeszahlen gemacht. Fündig wurden sie beim einflussreichen „Guardian“: Das hoch angesehene britische Medienhaus berichtete Ende März darüber, dass Schweden sich einer Katastrophe nähere, weil es nicht zuschließe wie der Rest Europas.
Außerdem berichtete der „Guardian“ über das schwedische Krisengesetz vom 16. April, womit sich die Regierung weitreichenden Handlungsspielraum vom Parlament hatte legitimieren lassen, sollte es die Corona-Pandemie erfordern. In diesem Gesetz sah der „Guardian“ den entscheidenden Wendepunkt des schwedischen Sonderwegs. Nahezu identische Artikel seien dann am folgenden Tag auch in deutschen Medien erschienen, berichtet „Dagens Nyheter“.
Das zeige, wie einflussreiche etablierte Medien als verlässliche Quellen angesehen würden, aber auch zu ungenauen Informationen beitragen könnten, sagte der Politik-Wissenschaftler Michal Smrek von der Universität Uppsala.
Schwedische Außenministerin rückte Berichterstattung zurecht
Die schwedische Außenministerin Ann Linde sah sich angesichts der Berichterstattung im Ausland genötigt, öffentlich zu erklären: „Es ist ein Mythos, dass das Leben in Schweden so weitergeht wie gewöhnlich.“ Zum sogenannten schwedischen Sonderweg etwa gehört, dass Kitas und Schulen bis zur 8. Klasse Präsenzunterricht haben. Oberstufe, Universitäten, Erwachsenenbildung haben auf digital umgestellt. Wer kann, soll von zu Hause arbeiten. Wer aber krank ist, muss zu Hause bleiben.
In Restaurants darf nur am Tisch gegessen werden mit entsprechendem Abstand zum Nachbarn. In Pflegeheimen gilt Besuchsverbot, die Krankenhaus-Intensivbetten wurden aufgestockt, von Reisen im Inland oder ins Ausland soll abgesehen werden, ebenso von Beuchen bei den Großeltern. Eigentlich ist der schwedische Alltag also dem künftigen deutschen recht ähnlich – nur ohne vorherigen Lockdown.
Noch gibt es keine Maskenpflicht, doch werden Masken von Älteren inzwischen häufiger getragen. Im Bus wird nur noch hinten eingestiegen und beim Fahrradladen muss man Wartenummern ziehen und draußen bleiben, bis man dran ist.
Distanz war auch schon vor Corona und selbst in der Großstadt Usus. Körperkontakt zwischen Fremden kam allerhöchstens in den dicht gedrängten öffentlichen Verkehrsmitteln im Berufsverkehr vor. Durch den Home-Office-Appell der Regierung, dem die Schweden auch nachkommen, hat sich das jetzt zusätzlich entzerrt.
Schwedisch Wirtschaft ist hart von der Corona-Krise getroffen
Die Pandemie trifft die schwedische Wirtschaft genauso hart wie die anderen europäischen Staaten. Die Arbeitslosigkeit könnte zum Jahresende bis zu 14 Prozent erreichen, das Bruttoinlandsprodukt dürfte um schätzungsweise sieben bis neun Prozent einbrechen. Viele Fabrikbänder stehen still und in der Stockholmer Innenstadt sind etliche kleine Läden geschlossen. Es gibt wenig Publikumsverkehr.
Vor der Corona-Krise hatten die großen Kreuzfahrtschiffe sehr verlässlich Tausende Tagestouristen in die pittoreske Altstadt Stockholms gespült und damit für Umsatz gesorgt. Nun aber legen die großen Kreuzer nicht mehr an.
Für den Staatsepidemiologen Anders Tegnell, auf den die schwedische Regierung bei der Virusbekämpfung hört, ist dies alles dennoch kein Grund umzusteuern. Man sei noch nicht am Ende der Straße angekommen, sagte er Anfang Mai. Er verwies auf Belgien und die Niederlande, die trotz weitreichender Einschränkungen der Bevölkerung deutlich mehr Tote pro Millionen Einwohner hätten.
Für seinen Kurs wird Tegnell in Schweden zwar einerseits mitunter hart angegangen, er ist aber auch andererseits zu einer Art Ikone der Freiheit geworden. Bei Facebook gibt es Fangruppen mit Zehntausendenden Mitgliedern, T-Shirts mit seiner Silhouette darauf werden verkauft und ein Schwede hat sich Tegnells Kopf sogar auf den Oberarm tätowieren lassen.
Inzwischen hat die oberste Gesundheitsbehörde bekannt gegeben, dass die Reproduktionszahl seit mehr als zehn Tagen unter eins liege und damit das Virus nach und nach abebbe, wenn der Wert so niedrig bliebe. Die tägliche Zahl der Toten sei ebenfalls gesunken von mehr als 100 Gestorbenen Mitte April auf etwa täglich 60 Ende des Monats. Nach Zahlen der Johns Hopkins Universität sind in Schweden (Stand 8. Mai) mehr als 24.600 Infizierte registriert, 3.040 Menschen sind gestorben.
Corona: Herdenimmunität schon Mitte Mai in Schweden?
Epidemiologe Tegnell sagte in Stockholm mathematischen Modellen zufolge sei es möglich, dass in der schwedischen Hauptstadt bereits Mitte Mai Anzeichen für eine so genannte Herdenimmunität zu sehen sein könnten. Nach einigen peinlichen Berechnungspannen zu Corona-Studien lässt sich diese Annahme aber nicht wirklich plausibel überprüfen. Die Gesundheitsbehörde sprach Ende April von etwa 26 Prozent bereits infizierter Menschen in Stockholm.
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Wenn es stimmt, dass die Herdenimmunität näher rückt, braucht eine zweite Welle den Hauptstädtern keine Angst zu machen, denn es wird sie nach diesen Berechnungen nicht geben. Mit diesem Gedanken lässt sich das Leben für die kommenden Monate tatsächlich entspannter planen. Die Schulen bleiben offen, ins Büro wird man auch wieder dürfen und vielleicht schon bald auch wieder auf ein Konzert.
Regierungschef Stefan Löfven macht immer wieder deutlich, dass über Lockerungen nicht weiter nachgedacht werde. Da Schwedens Strategie mit vergleichsweise moderaten Einschränkungen einhergeht, lässt sich der Kurs wohl auch noch eine Weile mit breiter Unterstützung der Bevölkerung durchhalten, was die enormen Zustimmungsraten für das Regierungshandeln und den Ministerpräsidenten zeigen.
Kitas und Schulen sind in Schweden geöffnet
Es lebt sich in Schweden also weiter nahezu so wie zu Beginn des Ausbruchs der Pandemie: Kitas und Schulen sind geöffnet und schwedische Eltern arbeiten weiter, möglichst zu Hause oder an ihren systemrelevanten Arbeitsplätzen. Die Kinder lernen mit Abstand zu den Lehrern und anderen Schülern zu lernen, zu essen und zu spielen. Interaktion geht eben auch in einer Distanz von anderthalb Metern.
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Privat genießen die Schweden unterdessen den Frühling, lassen ihre Boote zu Wasser, die hier so häufig vorkommen wie der VW Golf in Deutschland. Urlaub wird in diesem Jahr im eigenen Land gemacht und davon haben die Schweden reichlich. Zudem haben sie einen Anspruch darauf, vier Wochen am Stück frei nehmen zu dürfen, wovon sie auch redlich Gebrauch machen.
Jeder zweite Schwede hat ein Sommerhaus auf dem Land, wo er sich gern selbst isoliert. Und das in diesem Jahr vermutlich noch mehr, so dass die Stadt Stockholm in den langen hellen Sommernächten noch leerer sein wird als sonst. Obwohl Schweden seine Grenzen nicht geschlossen hat, ist auch hier der Flugverkehr nahezu zum Erliegen gekommen. Es kommt eben keiner mehr und niemand weiß, wie lange das so bleibt. Man hört von Deutschen in Schweden, dass es über den Landweg unkompliziert sei, die Familie in Deutschland zu besuchen.
Anke Fink ist freie Journalistin, sie lebt mit ihrem Mann und den Kindern seit Juli 2019 in Lidingö (Provinz Stockholm) in Schweden.