Berlin. In einem zähen Gespräch haben sich Bund und Länder auf eine Lockerung der Maßnahmen geeinigt. Am Ende regiert das Prinzip Hoffnung.

Angela Merkel ist genervt. Die Videoschalte mit den Ministerpräsidenten läuft irgendwie aus dem Ruder. Jeder Länder-Regierungschef will zu jedem Punkt noch etwas sagen. Der Kanzlerin reicht es. Sie sei kurz davor aufzugeben angesichts der Debatte, seufzt sie mit Blick auf das zähe Gespräch, so berichten es Teilnehmer später. Und sie weist ungeduldig darauf hin, dass um 16.30 Uhr eine Balkankonferenz auf sie warte. Sie könne diese aber auch gerne verschieben, fügt sie süffisant hinzu.

Es gibt dann also doch viel mehr Gesprächsbedarf am Mittwoch beim großen Corona-Lockerungsgipfel. Dabei waren viele Ministerpräsidenten bereits mit ihren Lockerungsplänen in den Tagen zuvor an die Öffentlichkeit gegangen. Doch es geht noch mal zur Sache, etwa bei den grundsätzlichen Kontaktbeschränkungen. Merkel vertritt hier einen restriktiven Kurs.

„Die Fünf-Personen-Regel mache ich nicht mit“, wird die Kanzlerin aus der Schalte zitiert. Unterstützt wird sie vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder. Er bezeichnet die Kontaktbeschränkungen später als „Mutter aller Fragen“. Das Duo setzt sich durch. Zwei Familien beziehungsweise zwei Hausstände dürfen sich wieder treffen, die 5-Personen-Regel von Sachsen-Anhalt darf das Land aber beibehalten.

Bund und Länder lockern Corona-Maßnahmen – vorerst

So liest sich die lange Liste an Beschlüssen auch wie ein Kompromiss-Katalog, damit alle Beteiligten ihr Gesicht wahren können. Die Kanzlerin, die zuletzt ein paar vorpreschende Ministerpräsidenten nicht mehr einfangen konnte und der ein Autoritätsverlust drohte – aber auch jene Länderfürsten, von denen manch einem durchaus mulmig ist, wenn er die Warnungen der Virologen zu den Lockerungen und einer zweiten Infektionswelle hört. Unterm Strich bleibt: Das Land macht wieder auf – vorerst.

Hier können Sie im Sommer Urlaub machen

weitere Videos

    „Wir können heute sagen, dass wir die allererste Phase der Pandemie hinter uns haben“, sagt eine erleichtert wirkende Kanzlerin. So lange ist es noch nicht her, dass Merkel „Öffnungsdiskussionsorgien“ angeprangert und ungeduldige Ministerpräsidenten gerüffelt hat. Merkel wäre aber nicht Merkel, würde sie nicht auf eine Absicherung bestehen. Sie nennt das in der Pressekonferenz einen „Notfallmechanismus“. Falls regional Corona-Infektionsherde wieder aufflammen, greift eine Obergrenze.

    Steigt die Zahl von Neuinfektionen in einzelnen Landkreisen wieder auf mehr als 50 pro 100.000 Einwohner innerhalb der letzten sieben Tage, muss es regional zu neuen Shutdowns kommen, bis die Grenze an sieben aufeinanderfolgenden Tagen wieder eingehalten wird. Aktuell ist nur einziger Landkreis bei 50 plus zu, so Merkel. Söder berichtet mit anerkennendem Seitenblick, dass die Kanzlerin über jeden Landkreis im Bilde sei.

    Corona-Maßnahmen: Was passiert bei einer zweiten Welle?

    Kanzlerin und Länderchefs wollen bei den Lockerungen auf Nummer sicher gehen. „Wir gehen einen mutigen Weg. Wir können uns ein Stück Mut leisten, aber wir müssen vorsichtig bleiben“, sagt Merkel. Die Verantwortlichen müssten darauf aufpassen, „dass uns die Sache nicht entgleitet“. Auch Söder trägt den Kurs mit. „Wir öffnen, aber nicht überstürzt, sondern mit Bedacht“, sagt er. Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) sagt später unserer Redaktion: „Nun bricht allmählich die Zeit einer neuen Normalität an, die uns hoffentlich einen Alltag mit dem Coronavirus ermöglicht.“

    Wer aber trägt künftig die Verantwortung für die Lockerungen? Wer bekommt den schwarzen Peter, falls es Rückschläge und eine zweite Welle an Infektionen gibt? Der rote Peter, Hamburgs SPD-Bürgermeister Tschentscher, räumt ein, dass die Länder den vorsichtigen Corona-Exit und den regionalen Flickenteppich bei den Lockerungen auf die eigene Kappe nehmen müssten: „Die Länder übernehmen eine sehr große Verantwortung“, sagt Tschentscher, der von Haus aus Mediziner ist.

    Besonders im Blick behalten wollen Politik und Virologen, wie sich nun die Lockerungen an Schulen, in Restaurants, Hotels und bei Reisen auf das Infektionsgeschehen auswirken. Klar ist, dass die Bürger weiterhin einen Mindestabstand von 1,5 Metern einhalten sollen, und zwar „noch für lange Zeit“.

    Kritik an der Bundesregierung in der Coronavirus-Pandemie

    Die wichtigsten Beschlüsse betreffen Schulen, Kitas, Pflegeheime. Merkel und die Ministerpräsidenten mussten sich von Elternvertretern, Lehrern und der Opposition zuletzt harsche Kritik gefallen lassen. Die Bedürfnisse von Millionen Kindern, Jugendlichen und zwischen Homeoffice und Heimbetreuung zerrissenen Eltern seien ein blinder Fleck in der Krise gewesen.

    Abiturienten und andere Abschlussklassen sind bereits wieder in Kleingruppen an ihren Schulen. Nun sollen nach Möglichkeit alle Schüler schrittweise unter Auflagen zurückkehren. Lehrer und Sozialarbeiter sollen sich besonders intensiv um benachteiligte und gesundheitlich eingeschränkte Kinder kümmern. In den Kitas wird es vom 11. Mai an überall eine erweiterte Notbetreuung geben.

    Sehr viel Wert legte die Kanzlerin auf die Situation von älteren Menschen, von Behinderten und Demenz-Kranken. Sie könne nur erahnen, was es für eine Last sei, dass Besuche in Pflegeheimen wochenlang verboten gewesen seien. „Diese Menschen haben Anspruch, dass wir auch an sie denken.“ Nun darf eine feste Kontaktperson wieder in Alten- und Pflegeheime täglich zu Besuch kommen.

    Mehr lesen: Ansturm auf deutsche Campingplätze: Steigen die Preise?

    Beschluss von Bund und Ländern: Alle Geschäfte dürfen wieder öffnen

    Auch bei den Geschäften tut sich etwas: Verschiedene Gerichte hatten das Ladenöffnungsverbot für Geschäfte über 800 Quadratmetern gekippt. Nun zieht die Politik nach. Die Länder dürfen alle Geschäfte wieder öffnen – ohne Qua­dratmeterbegrenzung. Es muss aber auf Hygiene und eine maximale Kundenzahl bezogen auf die Verkaufsfläche geachtet werden. Seit dem 20. April sind kleine Läden ohnehin schon wieder offen.

    Auch für die Bundesliga gibt es einen Neustart: Die Kanzlerin und viele Landesfürsten sind Fußballfans. Nun gibt es unter Auflagen grünes Licht für die Fortsetzung von 1. und 2. Bundesliga am 15. oder 21. Mai mit Geisterspielen ohne Publikum, um die Saison geordnet zu beenden. Die Entscheidung fiel einstimmig. Auch Amateur- und Breitensport wird wieder erlaubt.

    Millionen Fußballfans fiebern auf den Bundesliga-Neustart hin. Die Sonderrolle für „König Fußball“ ist dennoch umstritten. Mehrere Covid-19-Fälle beim 1. FC Köln und ein Video, in dem der inzwischen suspendierte Hertha-Profi Salomon Kalou händeschüttelnd durch die Kabine läuft, dokumentierten, dass die Kickerszene in Sachen Corona-Vorbeugung nicht unbedingt vorbildlich agiert. Söder spricht von einem „Eigentor“ der Hertha. Niedersachsens Sport- und Innenminister Boris Pistorius findet die Entscheidung gut. „Es geht hier nicht um eine Lex Bundesliga, weil Politiker so gerne auf der Tribüne ihres Lieblingsvereins sitzen.

    Mehr lesen: Die Zahl der Einbrüche geht deutlich zurück – wegen Corona

    Großveranstaltungen bleiben weiterhin verboten

    Die Liga muss das Produkt Fußball wieder verkaufen können, sonst geht in ein paar Monaten in vielen Städten das Fußball-Licht aus.“ Volksfeste , Konzerte oder Schützenfeste sollen dagegen bis mindestens zum 31. August verboten bleiben. Bereits abgesagt wurden das Oktoberfest in München, die Cannstatter Wasen in Stuttgart oder der Berlin-Marathon. Für die Gastronomie hatten die Wirtschaftsminister der Länder schon am Vorabend eine schrittweise Öffnung unter Auflagen ab dem 9. Mai verfügt.

    Mehr lesen: Wacken, Hurricane und Co.: Diese Festivals fallen nun aus

    Das Prinzip Hoffnung, es regierte am Mittwoch im Kanzleramt. Hoffnung auf eine vernünftige Bevölkerung und gegenseitiges Vertrauen zwischen Bund und Ländern. Dies sei der Grundsatz, so die Kanzlerin. „Wenn wir dieses Vertrauen nicht mehr haben, dass Landräte, Bürgermeister, Gesundheitsämter gut arbeiten, dann können wir einpacken. Das ist dann nicht unsere Bundesrepublik Deutschland.“

    Mehr zur Coronavirus-Pandemie erfahren Sie hier: