Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel findet, die Schutzmaßnahmen würden zu forsch zurückgedreht. Im Bundestag hielt sie eine wahre Brandrede.

Angela Merkel steht am Rednerpult im Bundestag. In Sitzungswochen eigentlich eine Selbstverständlichkeit – in Zeiten der Corona-Pandemie nicht. Eigentlich hätte an diesem Donnerstag schon die zweite Bundestagsrede der Kanzlerin in der Krise angestanden. Doch die vergangene Bundestagssitzung musste die 65 Jahre alte Regierungschefin in häuslicher Quarantäne verfolgen – sie hatte zuvor Kontakt zu einem mit Covid-19 infizierten Arzt.

Merkel holt am Donnerstag alles nach. Es ist eine Brandrede der CDU-Regierungschefin an die Deutschen in der tiefsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Es ist eine der längsten Regierungserklärungen ihrer Kanzlerschaft, sie spricht kämpferisch und leidenschaftlich, sie warnt, mahnt und verspricht.

Die Physikerin macht deutlich, für wie gefährlich sie die Lage nach wie vor hält: „Es geht um nicht weniger als um das Leben der Menschen.“ Niemand höre es gern, aber man sei nicht in der Endphase der Pandemie, sondern erst am Anfang. Es gebe Beschlüsse der Regierung und des Bundestags, die in ihrer historischen Dimension einmalig seien. Es ist das Werben um Verständnis, dass auch Politik in dieser Situation vor Fehlern nicht gefeit ist.

Die Kanzlerin mahnt, die Älteren nicht zu vergessen

Merkel wird persönlich, wenn sie darlegt, wie jeder Mensch sein Leben angepasst hat – und wie schwer das fällt. Und sie ruft dazu auf, vor allem ältere Menschen nicht zu vergessen und sich um sie zu kümmern: „Diese 80-, 90-Jährigen haben unser Land aufgebaut, der Wohlstand, in dem wir leben, den haben sie begründet.“ Die Kanzlerin musste vor etwa einem Jahr ihre geliebte und hochbetagte – sie wird in diesen Tagen oft an sie gedacht haben.

Die Regierungschefin erklärt im Bundestag, was sie in der Krise vorrangig leitet: die Situation auf den Intensivstationen. Es sei das schlichte, aber anspruchsvolle Ziel der Bundesregierung, dass jeder Erkrankte eine menschenwürdige Behandlung erhalte.

Aufruf zu Geduld und Disziplin

Sie wird deutlich: Sie trage die mit den Ministerpräsidenten getroffenen Lockerungsbeschlüsse aus der vergangenen Woche aus voller Überzeugung mit und stelle nicht die Hoheit der Länder beim Infektionsschutzgesetz infrage. Doch sie kritisiert die Umsetzung der ersten Lockerungen durch die Bundesländer offen: Diese sei „in Teilen sehr forsch, um nicht zu sagen zu forsch“.

Wenn sie das sage, so ändere das nichts an ihrer föderalen Überzeugung, „kein Jota“. Aber: „Ich sehe es als meine Pflicht zu mahnen, im Gespräch mit den Ministerpräsidenten, aber auch hier im Haus.“ Abermals ruft sie zu Geduld und Disziplin auf: „Lassen Sie uns jetzt das Erreichte nicht verspielen und einen Rückschlag riskieren.“

Entscheidungen über weitere Lockerungen erst am 6. Mai

Merkels Parteifreund etwa, NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, hat sich an die Spitzer derer gesetzt, die großzügiger mit Öffnungen umgehen wollen. Berlin ebenfalls. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sagt dagegen unserer Redaktion: „Eine zu große Öffnungseuphorie ist brandgefährlich, denn sie kann schnurstracks in eine zweite Infektionswelle führen, die wiederum einen zweiten Lockdown nach sich ziehen könnte.“

Angela Merkel bei der Ankunft im Bundestag am Donnerstag.
Angela Merkel bei der Ankunft im Bundestag am Donnerstag. © AFP | Tobias Schwarz

Auch Brandenburgs Regierungschef Dietmar Woidke (SPD) warnt vor einem „Bumerang“. Kommende Woche beraten Bund und Länder erneut – Ausgang offen und abhängig vom Infektionsgeschehen. Zwar gebe es Zwischenerfolge im Kampf gegen das Virus, betont die Kanzlerin. Aber: „Wir bewegen uns auf dünnem Eis, man kann auch sagen: auf dünnstem Eis.“ Man müsse vermeiden, von einem Shutdown zum nächsten zu geraten.

Am Abend sagt Merkel, Bund und Länder würden voraussichtlich erst am 6. Mai über mögliche weitere Lockerungen entscheiden. Die Auswirkungen der am Montag begonnenen Öffnung der Geschäfte könne man erst 14 Tage später abschätzen. Andere Lockerungen träten auch noch später in Kraft.

Deutschland bereit, mehr Geld in EU-Kasse einzuzahlen

Merkel gibt im Bundestag auch ein großes Versprechen ab. Europa sei nicht Europa, „wenn es nicht füreinander einsteht in Zeiten unverschuldeter Not“, sagt sie und erklärt, dass Deutschland dazu bereit sei, vorübergehend deutlich mehr Geld in die EU-Kasse einzuzahlen, um ein Konjunkturprogramm auszubauen.

Ausgerechnet Merkel, die n üchternen Pragmatismus mehr schätzt als dramatische Emotionen, spricht in ihrer Rede mehrfach von historischen Aufgaben. Wie kommt es dazu? Die Corona-Krise erwischte Merkel in einer Zeit des innenpolitischen Chaos. Die CDU zerlegte sich im Februar selbst in den Nachwirren des Thüringer Ministerpräsidentenwahlchaos. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer kündigte ihren Rückzug an, um ihr Erbe entbrannte ein Machtkampf.

Im Winter hatte die große Koalition auf dem Prüfstein gestanden, Merkels Favorit, Vizekanzler Olaf Scholz, war nicht zum SPD-Chef gewählt worden – die große Koalition stand vor einer schweren Zerreißprobe. Im Sommer zuvor hatten wiederkehrende Zitteranfälle weltweit Spekulationen über ihren Gesundheitszustand ausgelöst. Merkel kämpfte zu Beginn des Jahres 2020 also um die große Koalition und ihr politisches Erbe. Dann kam Corona.

Die Corona-TV-Ansprache markiert einen Wendepunkt

Die CDU-Politikerin überließ das Management zunächst ihrem Gesundheitsminister, doch nach den dramatischen Szenen aus italienischen Krankenhäusern griff sie ein. Sie wurde die oberste und bislang gefeierte Krisenmanagerin. Kommentatoren in den USA loben sie über den grünen Klee, hierzulande sind die Zustimmungswerte sehr hoch.

Ihr dramatischer Appell via TV-Ansprache an die Bevölkerung war ein Mittel, das sie in ihrer 15-jährigen Amtszeit (bis auf den traditionellen Jahreswechsel) noch nie genutzt hatte. Ihre Vertrauten drängten sie dazu, auch Kanzleramtschef Helge Braun hielt es für den richtigen Weg.

Der große Auftritt, das Pathos – es liegt Merkel nicht. Sie soll sich erst geziert haben, berichten einige – und sich dann doch dafür entschieden haben. Die Kanzler vor ihr nutzten das Instrument ebenfalls in historischen Momenten. Gerhard Schröder zu Beginn des Irakkriegs, Helmut Kohl zur Währungsunion, Helmut Schmidt in Zeiten der RAF. Es war ihr Versuch, die Bevölkerung zum Meiden sozialer Kontakte aufzufordern und vor Ausgangssperren zu bewahren.

In der Flüchtlingskrise 2015 ließ sie diese Ansprache vermissen

Es scheint, so sagt es jemand aus ihrem Umfeld, als hätte Merkel sich in dieser Krise auch ein Stück weit von sich selbst befreit. Sie kommuniziert fast ununterbrochen mit der Öffentlichkeit, stellt sich den Fragen. Sie berichtet über das Corona-Kabinett, über die internationalen Absprachen.

Selbst aus der Quarantäne heraus stellte ihr Team eilig Telefonpressekonferenzen zusammen. In der Flüchtlingskrise 2015 ließ sie diese Ansprache ans Volk vermissen. Die TV-Ansage war der richtige Schritt. Diese Form der Ansprache machte den Menschen bewusst, wie ernst die Lage ist – und für wie dramatisch die so nüchterne Merkel sie hält.

Corona übersteigt alle vorherigen Krisen

Sie erlebte im Amt bereits eine Menge Dramatik : die Finanzkrise, als sie im Oktober 2008 eine Garantie für deutsche Sparguthaben abgeben musste. Die Eurokrise, in der es um die Rettung der Eurozone ging. Und schließlich die Flüchtlingskrise 2015, die bis dato schwerste innenpolitische Herausforderung. Diverse Koalitionskrisen. Eine eigene Gesundheitskrise.

Corona übersteigt alles. Die Pandemie sei eine „demokratische Zumutung.“ Kaum eine Entscheidung „ist mir in meiner Amtszeit als Bundeskanzlerin so schwergefallen wie die Einschränkung der persönlichen Freiheitsrechte.“