Berlin. Der Druck auf die Regierung wächst, die Corona-Schutzmaßnahmen noch stärker zu lockern. Die große Koalition berät über neue Hilfen.
Mit einer Orgie ist nicht zu rechnen, wenn am frühen Mittwochabend die Koalitionsspitzen zum Corona-Krisengipfel im Kanzleramt zusammenkommen. Die Partei- und Fraktionschefs von CDU, CSU und SPD wollen nüchtern und pragmatisch beraten, wie die gigantischen Rettungsschirme für Wirtschaft und Arbeitsplätze bislang wirken und wo nachgesteuert werden soll.
So fordern Gewerkschaften und SPD eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes von aktuell bis zu 67 Prozent auf bis zu 87 Prozent. Das würde sehr viel zusätzliches Geld verschlingen. Auch eine auf sieben Prozent reduzierte Mehrwertsteuer für Hotels und Gastronomie ist im Gespräch.
Corona-Krise: Die Bundesregierung muss sich rechtfertigen
Die Bundesregierung hat versprochen, koste es, was es wolle, möglichst viele Krisenfolgen abzumildern. Doch längst geht es nicht mehr darum, bei den Hilfspaketen die eine oder andere Schraube nachzuziehen.
Nach vier Wochen Corona-Ausnahmezustand wächst der Rechtfertigungsdruck auf Angela Merkel und ihre Mitstreiter. Wie weit muss und darf die Politik mit ihren Pandemie-Maßnahmen in das öffentliche Leben des Landes und seiner Bürger eingreifen?
Coronavirus: Aktuell sind zahlreiche Grundrechte eingeschränkt
Zahlreiche Grundrechte sind derzeit eingeschränkt, um eine weitere Ausbreitung des hochansteckenden Coronavirus zu unterbinden. Trotz erster Lockerungen für Geschäfte mit maximal 800 Quadratmetern Ladenfläche dauern viele Restriktionen in Handel und Gastgewerbe an.
Die Reisefreiheit ist durch weitgehend geschlossene Grenzen in die meisten EU-Nachbarländer und teils sogar in andere Bundesländer beeinträchtigt. In einer wachsenden Zahl von Bundesländern ist Einkaufen oder die Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs für die Bürger fortan nur noch mit Mund-Nasen-Schutzmaske erlaubt.
Merkel sprach von „Öffnungsdiskussionsorgien“
Die Kanzlerin kanzelte lauter werdende Rufe nach weitergehenden Lockerungen als „Öffnungsdiskussionsorgien“ ab. Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann hält nichts von Maulkörben. „Gesundheitsschutz hat oberste Priorität, aber alle Corona-Maßnahmen müssen laufend auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft werden. Dazu passen keine Diskussionsverbote.“
In einem nächsten Schritt sollte auch der Gastronomie die Möglichkeit gegeben werden, „mit klaren Vorgaben ihre Betriebe wieder zu öffnen“, fordert der SPD-Politiker. Merkel und führende Virologen wiederum warnen, die – im internationalen Maßstab beachtlichen – Erfolge im Corona-Kampf nicht zu verspielen.
Nach jüngsten RKI-Zahlen breitet sich das Virus wieder stärker aus
Die neusten Zahlen des Robert-Koch-Instituts scheinen Merkels Vorsicht zu bestätigen und lassen nicht auf eine Entspannung der Lage schließen. Nach jüngsten RKI-Daten hat die Ausbreitung des Coronavirus wieder an Geschwindigkeit zugelegt. Die Ansteckungsrate lag am Montag bei 0,9 Prozent. Das bedeutet, dass im Mittel beinahe jeder Infizierte eine weitere Person ansteckt.
Ende der Vorwoche lag der Wert bei 0,7. Die Regierung will ihn dauerhaft deutlich unter 1 halten. Demnach hat sich die Verbreitung des Erregers wieder erhöht. Allerdings unterliegt diese geschätzte Zahl laut RKI einer gewissen Unsicherheit und weist regionale Unterschiede auf.
FDP-Chef Lindner: „Freiheitseinschränkungen müssen verhältnismäßig sein“
Die Exitdebatte wird Merkel dennoch nicht par ordre de mufti beenden können. FDP-Chef Christian Lindner sagte unserer Redaktion: „Die Freiheitseinschränkungen müssen verhältnismäßig sein. Wir müssen immer wieder prüfen, ob sie durch mildere Mittel ersetzt werden können.“
Dies müsse im Wochen- statt wie bisher im Zweiwochenrhythmus passieren, sagte Lindner. Dazu seien Kriterien nötig, wann Beschränkungen eingeführt und wann sie wieder aufgehoben werden. „Hier ist die Regierung in der Begründungspflicht.“
Verfassungsrechtler: Shutdown schnellstmöglich beenden
Das sieht auch der Verfassungsrechtler Matthias Kumm so. Aus der Einschränkung der Grundrechte ergebe sich die dringende Pflicht, den Shutdown so schnell wie möglich wieder zu beenden. Kanzlerin, Ministerpräsidenten und Behörden dürften sich dabei keineswegs nur auf wissenschaftliche Daten wie Reproduktionszahl oder Krankenhausbetten oder das Wohlverhalten der Bürger berufen. Das sei eine „obrigkeitsstaatliche Engführung“ der Diskussion.
Der Staatsrechtler warf im Online-Portal „Verfassungsblog“ etwa die Fragen auf, warum das Pflegepersonal in Altersheimen und Krankenhäusern noch nicht flächendeckend regelmäßig getestet werde oder es nicht genug Masken gebe. Wenn die Regierung ihre Bürger „wie unmündige Kinder“ behandele, werde sie ihrer freiheitlichen Schutzverantwortung nicht gerecht.
Nickt der Bundestag das Krisenmanagement nur ab?
Und das Parlament? Nickt der Bundestag das Krisenmanagement der Regierung wie zu dramatischen Eurokrisen-Zeiten nur noch ab? Die grüne Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth mahnt, dass es im Windschatten der Corona-Pandemie weltweit zum Abbau von Menschen- und Freiheitsrechten komme.„Umso drängender müssen wir beweisen, dass unsere Demokratie in der Lage ist, mit einer solchen Herausforderung wie einer globalen Pandemie angemessen, grundrechtewahrend und solidarisch umzugehen.“
Nach Ansicht von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht funktioniert die Gewaltenteilung. „Unsere Demokratie zeigt in dieser noch nie dagewesenen Bewährungsprobe doch gerade, wie stark und krisenfest sie ist.“ Bundes- und Landesregierungen müssten sich in den Parlamenten und öffentlich für ihr Handeln verantworten.
Justizministerin: „Alle Einschränkungen unterliegen gerichtlicher Kontrolle“
„Es gibt breite öffentliche Debatten über das Für und Wider von Lockerungen der Beschränkungen. Und alle Einschränkungen unterliegen gerichtlicher Kontrolle.“ So habe es eine Reihe von Gerichtsentscheidungen zu Gottesdiensten, Demonstrationen und Ladenöffnungen gegeben. „Ich finde, dass wir diese schwere Krise als demokratischer Rechtsstaat bisher sehr gut bestehen“, sagte die SPD-Politikerin unserer Redaktion.
Zugleich stellt Lambrecht klar: Keine Einschränkung der grundlegenden Freiheiten dürfe einschneidender sein oder länger dauern, als zum Schutz der Gesundheit unbedingt erforderlich. „Und je länger die Beschränkungen gelten, desto ausführlicher und gründlicher müssen sie begründet sein. Nur so können wir in der Bevölkerung Akzeptanz für unsere Entscheidungen finden.“
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