Berlin. Hanau war ein Fanal. Der Staat muss viel nachholen im Kampf gegen Rechtsextremismus. Der „weiße Dschihad“ wird zur globalen Bedrohung.
Der Staat ist nicht blind auf dem rechten Auge. Jedenfalls nicht mehr. In der Zeit des rechtsterroristischen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ mit neun Morden an Menschen aus türkischen und griechischen Familien war der Staat blind. Er unterschätzte die rechte Gefahr, er ignorierte sie. Und manche Beamte im Verfassungsschutz wollten gar nicht genau hinsehen.
Heute, fast zehn Jahre nach dem Auffliegen der Mordserie, reißt der Staat das rechte Auge auf. Erschrocken. Verschämt. Politiker wie der Bundespräsident stehen auf Gedenkfeiern und suchen genauso nach Worten wie die Freunde der Toten.
Für Seehofer ist der Rechtsextremismus die „größte Gefahr“
Nach dem Attentat von Hanau mit zehn getöteten Opfern nennt der Bundesinnenminister den Rechtsextremismus die „größte Gefahr“. Man kann der Bundesregierung nicht vorwerfen, sie würde nichts tun. Deutschland ignoriert den rechten Terror nicht mehr. Wie könnten wir auch – nach dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke im Juli vergangenen Jahres. Nach dem Sturm eines Attentäter auf die Synagoge in Halle. Nach dem Anschlag eines wahnhaften Rassisten in Hanau, der gezielt Menschen aus türkischen Familien erschoss.
Die Politik unternimmt viel: Die Sicherheitsbehörden bekommen Hunderte neue Beamte. Das ist richtig. Denn sie müssen Internetforen überwachen, Szenen beobachten, Haftbefehle gegen abgetauchte Neonazis verfolgen. Was lange versäumt wurde, muss nachgearbeitet werden.
Mit einem neuen Gesetz setzt die Bundesregierung Netzwerke wie Facebook unter Druck. Die sozialen Medien sind zu Katalysatoren des Hasses geworden. Dort herrscht Anarchie, rechte Hetzer agieren gezielt gegen Minderheiten. Der Staat verpflichtet die Betreiber jetzt, Drohungen und Volksverhetzung an die Polizei zu melden. Längst überfällig.
Rechte Hetzer tragen keine Springerstiefel mehr
Und doch kann die Politik die Löcher nicht stopfen, die sie hinterlassen hat. Horst Seehofer selbst hatte die Migration zur „Mutter aller Probleme“ erkoren. Es sind auch diese Worte, die ein Klima schaffen, in denen Menschen aus türkischen oder arabischen Familien zu Zielen von Anfeindungen werden.
Seehofer hat umgeschwenkt. Andere hetzen. Hart. Extrem. Und die Hetzer tragen keine Springerstiefel mehr wie die Neonazis der 90er-Jahre. Hetzer hocken zu Hause vor ihren Computern, verirren sich in Verschwörungstheorien und Frauenfeindlichkeit. Vernetzen sich mit anderen Rassisten. Der Pegel des Hasses steigt.
Und es ist Teil der Taktik eines globalen „weißen Dschihads“, dass einzelne Täter aus dem Netzwerk irgendwann zuschlagen. Regierung und Sicherheitsbehörden haben bisher kein Konzept gegen diese Radikalisierung gefunden – auch weil sie zu sehr auf Überwachung setzen. Und zu wenig auf Prävention. Durch Jugendarbeit, Pädagogen und Psychologen, die für junge Menschen im Internet ansprechbar sind wie die Sozialarbeiter in Schulen und Jugendclubs.
Die Hetzer sitzen auch in den Landesparlamenten. In Thüringen, in Brandenburg. Sogar im Bundestag. Die AfD hat sich seit Jahren immer weiter radikalisiert. Ihr Geschäft ist das Ressentiment. Im Parlament und auf Protestzügen bringen ihre Anführer völkische Ideologie in die Welt.
Und auch nach dem Attentat von Hanau verweigert die Spitze der Partei eine Auseinandersetzung mit der Gefahr durch den Rechtsterrorismus. Vor allem Union und FDP müssen jetzt klare Kante zeigen. Mit der Partei darf es keine Zusammenarbeit geben. Und auch der Verfassungsschutz muss sie endlich als das beobachten, was sie ist: Teil einer neurechten Szene. Denn die Politik von Gauland und Höcke ist nicht bürgerlich. Ihre Parolen sind Munition für Hetzer im Internet. Munition auch für rassistische Gewalttäter.
Der mutmaßliche Täter von Hanau war den Ermittlungsbehörden bereits bekannt – weil er selbst auf sie zuging. Das wirft die Frage auf, ob die Bluttat hätte verhindert werden können. Zudem muss erörtert werden, inwiefern Parteien wie die AfD eine Mitschuld an rechten Anschlägen tragen.