London. Um 23 Uhr Ortszeit wird Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU sein. Wie ist die Stimmung in London? Eindrücke aus Westminster.
Westminster sieht an diesem historischen Tag erstaunlich normal aus, zumindest auf den ersten Blick. Tritt man gegen zehn Uhr morgens aus der U-Bahnstation des Londoner Regierungsviertels, stehen wie immer Touristen vor dem Glockenturm Big Ben, Politiker in Anzügen überqueren die Straßen hastig, und Obdachlose sitzen in ihren Schlafsäcken auf den Gehsteigen.
Dass etwas Bedeutsames im Gang ist, sieht man erst auf dem Parliament Square, dem großen Platz vor dem Parlamentsgebäude, wo Dutzende Journalisten vor den Fernsehkameras stehen und ihre Skripte üben.
Die große Brexit-Party steigt zwar erst am Abend, aber schon sind einige Protestierende eingetroffen, viele von ihnen mit Großbritannien-Flaggen. „Dies ist unser Unabhängigkeitstag“, sagt Russell, ein Mann mittleren Alters, dessen graue Haare nach hinten geliert sind.
Brexit-Anhänger sehen sich am Ziel
„Dreieinhalb verdammte Jahre habe ich darauf gewartet, dass wir aus der EU austreten!“, sagt er. „Nein, eigentlich seit über dreißig Jahren. Wir hätten nie der EU beitreten sollen.“ Zu den Gründen kann er allerdings nicht viel mehr als Fluchwörter sagen. Auf jeden Fall wird er jetzt ordentlich feiern.
Jetzt sind die Brexit-Anhänger am Ziel: Um 23 Uhr Ortszeit wird Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU sein, das Votum von 2016 wird dann endlich in die Tat umgesetzt werden. Wie unterschiedlich die Emotionen sind, die dieses Datum auslöst, lässt sich an den Frontseiten der Tagespresse ablesen.
Der linksliberale Guardian warnt, dass es „das größte Wagnis seit Jahrzehnten sei“, neben einem Bild der weißen Klippen von Dover steht: „Kleine Insel.“ Die rechtskonservative Sun hingegen meint, dass mit dem EU-Austritt endlich „die schleichende Gefahr eines Europäischen Überstaats“ gebannt sei. Noch pathetischer kommt die Daily Mail daher, die „eine neue Morgendämmerung“ verspricht.
Brexit: Big Ben wird am Abend nicht bimmeln
Solch triumphierende Stimmung dominiert auch auf dem Platz vor dem Parlament. Am Rand des sumpfigen Rasens wehen die Union Jacks im Wind, auch manche England- und USA-Flaggen sind zu sehen.
Am Abend wird hier die große Party steigen. Nigel Farage, Chef der Brexit-Partei und eines der Zugpferde der „Leave“-Kampagne, soll auftreten, dazu manche prominente Parteikolleginnen und -kollegen. Allerdings wird der Big Ben aufgrund von Renovierungsarbeiten nicht bimmeln – sehr zur Enttäuschung mancher Brexiteers.
Bald gesellt sich ein breiter Mann mit Lederjacke und grauem Spitzenbart zu seinem Kumpel Russell, und wird begrüßt mit den Worten: „Happy Independence Day!“ David Alexander heißt er, Veteran der britischen Armee, und ein glühender Brexit-Anhänger. Er beginnt gleich über die Mainstream-Medien zu wettern. Dass das Land gespalten ist, glaubt er nicht: „Die Eliten sind es doch, die uns gegeneinander aufbringen wollen.“
Der Brexit sei vielmehr ein Weg, das Land zusammenzubringen – er sieht den EU-Austritt als einen Sieg über das Establishment. Aber in London, der Remain-Metropole, ist auch endlose Enttäuschung spürbar. Peter Benson, ein Ire, der seit 36 Jahren in der britischen Hauptstadt lebt, hat ein blaues Europa-Beret mitsamt gelben Sternen aufgesetzt und sich vors Parlamentsgebäude gestellt. „Der Nutzen, den wir aus der Mitgliedschaft in der EU ziehen, ist den Briten nie erklärt worden“, sagt er.
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Er erwähnt die Arbeitsstandards, das Geld der EU für die ärmeren Regionen Englands, und das Personal im Gesundheitsdienst, wo Tausende EU-Bürger arbeiten. Noch seien die Folgen nicht spürbar, auch weil Boris Johnson ein begnadeter Schönredner sei, sagt Benson, aber irgendwann würde die Enttäuschung über die Realität einsetzen. „Ich bin fest überzeugt, dass sie diese Entscheidung noch bereuen werden“, sagt er. „Es mag zehn Jahre dauern, aber am Ende werden sie es bereuen.“
An Londoner U-Bahnstationen sind an diesem Tag Schilder zu sehen, auf denen das Personal den Fahrgästen versichert, dass die britische Metropole immer offen bleiben werde. Hier lebt eine geschätzte Million EU-Bürger, und viele sorgen sich, wie es mir ihrem Aufenthaltsstatus weitergehen wird.
Die Regierung plant, nach dem Brexit ein Punktesystem einzuführen, um die Zahl der Einwanderer zu senken. Doch Sadiq Khan, der Londoner Bürgermeister, übte heftige Kritik an dieser Idee: London wolle und brauche Einwanderer. Er ist jedoch auch zuversichtlich, dass der Brexit der Hauptstadt nicht besonders schaden wird: „Tausend Jahre lang sind wir offen gewesen für Handel, Menschen und Ideen, und mein Optimismus gründet auf dieser Erfolgsgeschichte“, sagte Khan in einem Zeitungsinterview.
Brexit-Befürworter feiern teils auf großspurige Weise
Auch andere EU-freundliche Städte setzten ein Zeichen gegen den Brexit. In Oxford zum Beispiel hisste die Stadtverwaltung eine EU-Flagge am Rathaus, als „Tribut für Jahrzehnte der Freundschaft und Zusammenarbeit.“ Die Bitterkeit vieler Remain-Anhänger wird dadurch vertieft, dass manche Brexiters ihren Sieg auf so großspurige Weise feiern.
Ann Widdecombe, eine prominente Europaabgeordnete der Brexit-Partei, verließ das EU-Parlament in Brüssel in einem Taxi, das sie mit einer Großbritannien-Flagge geschmückt hatte; vor dem Gefährt marschierte ein ehemaliger Tory-Minister mit einem Dudelsack. Am Tag zuvor hatte sie mit ihren Parteigefährten im EU-Parlament zum Abschied die Fähnlein geschwenkt.
Der peinliche Stunt wird bei vielen Europaabgeordneten nebst Traurigkeit auch Erleichterung ausgelöst haben, dass sie diese rechtspopulistische Truppe nunmehr los sind. Die Regierung ist sich anscheinend bewusst, dass Triumphalismus nicht besonders gut ankommt. Sie hat die Botschaften in aller Welt angeordnet, bitte keine Feiern abzuhalten.
Auch der prominente Brexit-Fan Tim Martin, Besitzer der Pub-Kette Weatherspoon, gibt sich auf einmal versöhnlich: Als Symbol, dass es keine Abkehr von Europa geben soll, hat er die Preise europäischer Biere am Brexit-Tag um die Hälfte reduziert.
Aber auf dem Parliament Square spürt man keine Zurückhaltung – hier feiern die EU-Gegner. Ruth McKenzie und ihr Mann gehören zu ihnen, die zwei Rentner, die langsam um den Platz gehen, sind von Windsor gekommen, um den Tag zu markieren.
Auch sie haben jahrzehntelang darauf gehofft, dass Großbritannien die EU verlässt – „seit fünfzig Jahren warte ich darauf!“, sagt die 79-jährige McKenzie. In zwei Tagen werde sie ihren Geburtstag feiern, und der Brexit sei die beste Bescherung.
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