Berlin. Am Freitag tritt Großbritannien offiziell aus der EU aus. Wolfgang Schäuble spricht im Interview darüber, ob weitere Staaten folgen.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ist in dieser Woche des Gedenkens ein gefragter Redner und Gesprächspartner. Der CDU-Politiker ist der dienstälteste Abgeordnete im Bundestag und der zweithöchste Repräsentant des Staates. Wir treffen gemeinsam mit der französischen Zeitung „Ouest-France“ einen nachdenklichen Parlamentspräsidenten in seinem Büro.
Herr Präsident, die zivilisierte Welt gedenkt in diesen Tagen der Opfer des Holocaust. Gleichzeitig ziehen Rechtsextreme in Deutschland und Frankreich in die Parlamente ein. Wie gefährlich ist das?
Wolfgang Schäuble: Viele Menschen, die in Deutschland AfD oder in Frankreich Rassemblement National wählen, wehren sich zu Recht dagegen, mit Nazis in eine Kategorie gesteckt zu werden. Es hat keinen Sinn, die Menschen zu verdammen, wenn sie ihren Unmut gegen politische Entwicklungen kundtun. Mit Beschimpfungen gewinnt man keine Wahlen. Wir müssen die Menschen überzeugen, dass der demokratische Rechtsstaat einen besseren Schutz gewähren kann als populistische Reden und dumpfer Hass.
Was tun mit Volksvertretern, die die Hitlerzeit als „Vogelschiss deutscher Geschichte“ und das Holocaust-Mahnmal als „Denkmal der Schande“ umdeuten?
Schäuble: AfD-Fraktionschef Alexander Gauland hat seine Aussage als Fehler bezeichnet und sich entschuldigt. Das muss man zur Kenntnis nehmen.
Darf man als deutscher Politiker solche Fehler machen?
Schäuble: Wir müssen jeder Verharmlosung des Holocaust und auch dem Hass im Netz entschieden entgegentreten. Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus findet im Bundestag immer in großer Würde statt. Darüber bin ich froh, bei allem, was mir sonst nicht gefällt.
Haben Sie Hoffnung für die Demokratie?
Schäuble: Natürlich, wir dürfen sie nur nicht als selbstverständlich ansehen. Es ist sehr gut, dass die junge Generation ihre Forderungen mit Nachdruck formuliert und ihre Erwartungen auch auf die Straße bringt. Das ist eine Hoffnung für die Demokratie, eine Hoffnung für die Zukunft.
Nächste Woche treffen sich deutsche und französische Abgeordnete zur gemeinsamen Parlamentssitzung. Wie gut ist das deutsch-französische Verhältnis?
Schäuble: Deutschland und Frankreich sind privilegierte Partner. Beide Länder müssen Europa handlungsfähiger machen und die EU voranbringen. Es gab in diesen Tagen gute Beispiele dafür: Der Afrika-Gipfel beim französischen Präsidenten Emmanuel Macron und der Libyen-Gipfel in Berlin waren Erfolge.
Präsident Macron will keine südosteuropäischen Staaten mehr in die EU aufnehmen, erteilte etwa Nordmazedonien eine Absage. Ist das klug oder populistisch?
Schäuble: Ich habe das nicht als endgültige Weigerung verstanden, sondern vielmehr als Aufforderung an die Länder, die sich einen Beitritt wünschen, bei ihren Reformen weiterzumachen. Umgekehrt muss sich auch die EU anstrengen, denn wie sollen wir dem Rest der Welt vermitteln, dass wir zur Sicherheit und zum Ausgleich beitragen wollen, wenn Europa noch nicht mal in der Lage ist, sich mit Blick auf den Balkan selbst zu stabilisieren?
Bundeskanzlerin Angela Merkel war über das klare „Non“ sehr verstimmt.
Schäuble: Verständlicherweise, braucht es doch für diese Fragen die Einstimmigkeit in der EU. Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Möglicherweise hat Präsident Macron auch aus wahltaktischen Gründen so gehandelt. Auch in Deutschland gibt es Vorbehalte gegen weitere Beitrittsländer. Macron muss sich mit heftiger Gegenwehr zu seinen Reformen auseinandersetzen.
Wie wichtig ist es, dass Frankreich beim Rentenalter keine Sonderrolle spielt?
Schäuble: Wir haben keinen Grund, hämisch nach Frankreich zu blicken, wenn ich mir die Diskussion um unsere Grundrente anschaue. Ich habe jedenfalls großen Respekt vor dem Mut und der Entschlossenheit von Präsident Macron, das kontroverse und emotional aufgeladene Thema Rente anzugehen. Er muss dieses komplizierte System aufbrechen. Je erfolgreicher er ist, desto besser für uns alle. Auch für Deutschland ist ein wirtschaftlich starkes Frankreich besser.
Macron hat viele Vorschläge gemacht für eine tiefere europäische Integration und scheint die Geduld verloren zu haben. Hat Deutschland eine wichtige Chance verpasst?
Schäuble: Macrons Ungeduld ist das Ergebnis viel zu langen Wartens – auf unsere Antwort, auf eigene deutsche Ideen, auf gemeinsame Führung. Wir müssen zusammen daran arbeiten, dass die europäische Integration besser wird.
Muss das nicht gerade bei der Sicherheitspolitik erfolgen? Wann machen Frankreich und Deutschland gemeinsame Sache?
Schäuble: Wenn wir eine stärkere Rolle Europas in der Außen- und Sicherheitspolitik wollen, dann müssen Deutschland und Frankreich stärker zusammen vorangehen. Die beiden Länder haben eine Führungsverantwortung. In Deutschland haben wir als Folge der Geschichte eine große Zurückhaltung bei militärischen Einsätzen und eine starke Beteiligung des Parlaments. Deswegen wird dies eines der großen Themen bei der deutsch-französischen Parlamentarischen Versammlung in der kommenden Woche sein.
Man kommt doch seit Jahren nicht voran …
Schäuble: Das ist wahr. Deswegen haben amerikanische Präsidenten, die seit vielen Jahren eine stärkere Beteiligung Europas an Lasten im transatlantischen Bündnis einfordern, auch recht. Wenn man sich die stabile wirtschaftliche Lage hierzulande anschaut und gleichzeitig die Aufwendungen für die Sicherheit, dann passt da etwas nicht zusammen. Es geht ja nicht nur um Geld und Haushaltsmittel, sondern auch um die Übernahme von Risiken bei Einsätzen.
Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer schlägt eine internationale Schutzzone in Syrien vor, die Kanzlerin schließt ein deutsches Engagement in Libyen zumindest nicht aus. Was sagen Sie dazu?
Schäuble: Wir können uns nicht wegducken. Wenn Europa eine stärkere Rolle spielen soll, dann müssen wir unseren Beitrag leisten. Ich bin da ganz bei Annegret Kramp-Karrenbauer, die dafür wirbt, dass wir mehr Verantwortung übernehmen. Natürlich muss man die Widerstände in der Bevölkerung und im Parlament ernst nehmen, aber wir müssen auch auf die Kritik unserer Bündnispartner hören. Wenn uns Frankreich etwa auffordert, mehr für den Kampf um die Sicherheit in Mali zu tun, lösen unsere Antworten in Paris keine Begeisterungsstürme aus. Darüber muss man reden.
Braucht es eine Blauhelmaktion in Libyen – auch mit deutschen Soldaten?
Schäuble: Die Libyen-Konferenz war ein großer Erfolg der Bundeskanzlerin. Es ist unbestritten, dass wir uns da weiter engagieren müssen und im Zweifel auch unangenehme Aufgaben übernehmen.
Das heißt, dass Deutschland auch das Leben von Soldaten riskiert ...
Schäuble: Wir können nicht alles Franzosen und Amerikanern überlassen. Die Lehre aus Auschwitz kann kein Argument dafür sein, dauerhaft kein Engagement zu übernehmen. Militärische Mittel führen nicht immer zum Ziel. Aber ganz ohne die Fähigkeit, militärische Relevanz zu zeigen, wird es nicht gehen. Das hat einen moralischen Preis und damit gehen höhere Risiken einher.
War die Einlassung von Präsident Macron zum „Hirntod der Nato“ hilfreich?
Schäuble: Ich denke, Macron wollte damit auf Mängel im transatlantischen Bündnis hinweisen. Ein ehemaliger polnischer Außenminister hat mal gesagt: „Früher hatten wir Angst vor einem zu starken Deutschland, heute haben wir eher Sorge, dass Deutschland zu schwach sein könnte.“
Sind wir zu schwach?
Schäuble: Wir können jedenfalls nicht ununterbrochen die moralischen Kosten auf andere abwälzen.
Diese Woche verlassen die Briten die EU. Was erwarten Sie von dem Ex-EU-Mitglied?
Schäuble: Der Brexit ist ein trauriges Ereignis. Doch die Briten haben ihrem Premier Boris Johnson ein klares Mandat gegeben. Jetzt müssen alle Beteiligten daran arbeiten, die Folgen so begrenzt wie möglich zu halten.
Sie haben den Brexit bezweifelt. Treten die Briten wieder in die EU ein?
Schäuble: Irgendwann schon, die Frage ist, ob wir das noch erleben.
Wird es weitere Austrittskandidaten geben?
Schäuble: Die Gefahr sehe ich gebannt, der Ablauf des Brexits hat solche Überlegungen in anderen EU-Ländern eher geschwächt.
Also kein Polexit, kein Austritt Polens?
Schäuble: Nein, und umso mehr ein Anlass, dass wir aufhören, den östlichen Partnern in Europa ein Gefühl zu geben, als wüssten wir es besser. Das meine ich etwa mit Blick auf die Diskussion um die polnische Justizreform, die umstritten ist, und die ich nicht verteidigen will. Aber wir sollten es sehr ernst nehmen, wenn die Polen sagen, sie fühlten sich von oben herab behandelt. Und wir sollten alles tun, die Überwindung der Teilung Europas nicht zu gefährden.
Deutschland diskutiert den Schutz von Kommunalpolitikern. Sind deutsche Mandatsträger ausreichend geschützt?
Schäuble: Die Drohungen sind eine Schande für die Gesellschaft. Es ist Aufgabe des Staates, Politiker ausreichend zu schützen und solche Bedrohungen zu verfolgen. Aber damit allein ist es nicht getan. Jeder muss der Verrohung entgegentreten, im Netz. Es braucht mehr Zivilcourage.
Liegt die Verantwortung nicht auch bei den großen Plattformen wie Facebook?
Schäuble: Wo Appelle nicht reichen, braucht es Vorschriften. Und wo diese Regeln nicht ausreichen, müssen sie gesetzlich verschärft werden.
Sie wollen ein kleineres Parlament. Woran scheitert das bislang?
Schäuble: Die Interessenslagen sind verständlicherweise sehr unterschiedlich. Es gibt gute Argumente, die Zahl der Wahlkreise nicht zu verringern. Und es gibt gute Argumente dafür, Ausgleichsmandate nicht abzuschaffen.
Wie kann ein Kompromiss aussehen?
Schäuble: Das Problem ähnelt der Quadratur des Kreises. Ich sehe derzeit keinen Konsens für eine grundlegende Änderung des personalisierten Verhältniswahlrechts. Mein Vorschlag ist ein Kompromiss, bei dem jeder etwas abgeben muss. Zumindest in der CDU wächst die Einsicht, dass man aufeinander zugehen muss. Wenn wir jetzt aufgrund der knappen Fristen eine Wahlkreisneueinteilung für die nächste Wahl nicht mehr hinbekommen, dann muss man jetzt erste Schritte machen, damit der Bundestag nicht noch größer wird. Dafür liegen verschiedene Vorschläge der Fraktionen auf dem Tisch. Ich werbe intensiv für guten Willen auf allen Seiten, um die gegenseitige Blockade aufzulösen.
Sind Sie glücklich mit dem Bild, das die CDU derzeit abgibt?
Schäuble: Die Zeiten sind für alle politischen Parteien nicht einfach, dafür hält sich die Union ziemlich stabil. Die Trennung von Kanzleramt und CDU-Vorsitz macht die Situation nicht einfacher, aber wir haben die bisherigen Personalentscheidungen in einer klugen Weise getroffen.
Woran entscheidet sich, wer Kanzlerkandidat wird?
Schäuble: Die CDU muss jetzt Sachfragen diskutieren, keine Personalfragen.
Sie selbst waren mit Personalaussagen zum CDU-Vorsitz nicht so zurückhaltend.
Schäuble: Ja, das war aber vor der Entscheidung durch den Parteitag. Die Frage der Kanzlerkandidatur ist etwas völlig anderes. Sie wird mit der CSU zusammen entschieden, von den Vorständen, den Präsidien oder den beiden Vorsitzenden. Wenn der Vorschlag gut ist, wird er Zustimmung finden. Andernfalls gibt es eine Debatte. Ich erinnere daran, dass Ende der 70er-Jahre auch schon mal die Fraktion eine solche Entscheidung getroffen hat.
Es gab große Aufregung um Sigmar Gabriel. Darf ein Ex-SPD-Chef Aufsichtsrat der Deutschen Bank werden?
Schäuble: Sigmar Gabriel hat alle Fristen gewahrt, die es bei einem Wechsel in die Wirtschaft zu beachten gilt. Die Deutsche Bank hat die Entscheidung getroffen, dass sie ihn gerne in ihrem Gremium hätte. Was soll daran anrüchig sein? Dass die Entscheidung nicht jedem in der SPD gefällt, das kann ich allerdings verstehen.