Bagdad. Die Anti-IS-Koalition setzt den Irak-Einsatz aus. Das könnte Folgen haben: Experten warnen vor einem Wiedererstarken der Terrormiliz.
Die Verteidigungsministerin klang alarmiert. „Der IS ist nicht nachhaltig und endgültig besiegt. Die von ihm ausgehende Bedrohung ist weiter vorhanden“, sagte Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) am Dienstag bei der Klausurtagung der CSU-Bundestagsabgeordneten im oberbayerischen Seeon. Die Ministerin warnte vor einer Rückkehr der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS).
Die Dschihadisten hatten nach ihrer Gründung 2014 große Territorien im Irak und in Syrien erobert und die Welt mit einer Vielzahl von Attacken überzogen. Doch infolge einer schlagkräftigen Kampagne einer internationalen Anti-IS-Koalition zusammen mit Kurden und der irakischen Armee schrumpften die Gebiete des IS gegen null. Versprengte Zellen gab es nur noch im Untergrund.
Die Amerikaner schützen zurzeit vor allem sich selbst
Doch ausgerechnet die Anti-IS-Koalition legte ihr Mandat – das die Unterstützung und Ausbildung irakischer Kräfte vorsah – nun bis auf Weiteres auf Eis. Nach der Tötung des iranischen Generals Ghassem Soleimani und des irakischen Vizechefs einer schiitischen Miliz durch einen US-Drohnenangriff setzte die Anti-IS-Koalition ihren Einsatz aus.
Auch Amerika, das Führungsland der Koalition, schloss sich dem an. Aufgrund der erhöhten Gefahr für die amerikanischen Soldaten konzentrierten sich diese darauf, sich selbst zu schützen, hieß es in einer Stellungnahme des US-Militärs. Die Amerikaner haben mehr als 5000 Soldaten im Irak stationiert, die Nato insgesamt etwa 500. Das irakische Parlament hatte beschlossen, dass alle ausländischen Truppen das Land verlassen müssen.
Die Bundeswehr reagierte. Angesichts der dramatisch gestiegenen Spannungen wurde ein Teil der knapp 150 deutschen Soldaten im Irak in Nachbarländer verlegt. Insgesamt 32 Soldaten wurden aus dem zentralirakischen Tadschi sowie Bagdad nach Jordanien und Kuwait geflogen. Im kurdischen Erbil verbleiben bis auf Weiteres 117 Bundeswehrsoldaten zur Ausbildung der dortigen Peschmerga. Auch erste Nato-Truppen wurden abgezogen.
Die Verteidigungsministerin und Außenminister Heiko Maas (SPD) bekräftigten, dass mit dem Irak weiter Gespräche über eine Fortsetzung des Einsatzes geführt würden. „Selbstverständlich werden wir jede souveräne Entscheidung der irakischen Regierung respektieren“, hieß es in einem Schreiben an die Obleute im Verteidigungs- und im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. „Wir sind grundsätzlich bereit, unsere bewährte Unterstützung in einem international koordinierten Rahmen weiterzuführen, sofern dies durch den Irak gewünscht ist und die Lage es erlaubt.“
Experten warnen nach der Aussetzung der Anti-IS-Kampagne vor einem Wiedererstarken des islamistischen Terrors. „Die Gefahr besteht mittel- bis langfristig“, sagte der Nahost-Experte Daniel Gerlach unserer Redaktion. „Aufständische sunnitische Gruppen könnten sich dem IS anschließen.“ So seien im Großraum Kirkuk im Nordirak dschihadistische Banden unterwegs, die von der Bevölkerung Schutzgelder erpressten.
Irak hält 17.000 Terrorverdächtige gefangen
„Zudem könnte der IS im syrisch-irakischen Grenzgebiet wieder Fuß fassen, da die Kurden dort stark unter den Druck des türkischen Militärs geraten sind“, so Gerlach. Besonders gefährlich könnten dschihadistische Netzwerke werden, die sowohl Nähe zum IS als auch zu Al-Kaida hätten.
„Sie könnten Anschläge auf amerikanische und iranische Ziele verüben und versuchen, dies der jeweils anderen Seite in die Schuhe zu schieben“, sagte Gerlach, der auch Chefredakteur des Fachmagazins „Zenith“ ist. „Die Gruppen haben ein großes Interesse an einer weiteren Eskalation.“
Nach Schätzungen des US-Verteidigungsministeriums hat der „Islamische Staat“ in Syrien und im Irak immer noch rund 18.000 Kämpfer unter Waffen, darunter 3000 Ausländer. In Nordsyrien sitzen 12.000 islamistische Extremisten hinter Gittern, hinzu kommen 70.000 Familienangehörige.
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Der Irak hält derzeit 17.000 Terrorverdächtige gefangen. Vor allem in den Provinzen Niniveh, Kirkuk, Diyala und Anbar haben IS-Kommandos wieder Fuß gefasst. Kidnappings, Straßensperren und Bombenanschläge gehören zum Alltag. Dutzende Politiker und Stammesführer wurden ermordet. Auch viele verstummte Facebook-Accounts von IS-Anhängern wurden reaktiviert.
Ohne internationale Unterstützung aber wären Kurden und die irakische Armee im Kampf gegen die sunnitischen Extremisten vom IS künftig vor allem auf die pro-iranischen Milizen angewiesen. Und das könnte den Irak zum Schlachtfeld zwischen sunnitischen Islamisten und schiitischen Radikalen machen.
Bewaffnete Brigaden bilden Staat im Staate
Nach Angaben von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kann ein Wiedererstarken des IS nur durch eine Fortsetzung der Nato-Irak-Mission verhindert werden. Im Gespräch mit Iraks Regierungschef Adel Abdel Mahdi habe der Norweger betont, dass sich die Alliierten dem derzeit ausgesetzten Ausbildungseinsatz im Irak sehr verpflichtet fühlten, erklärte sein Sprecher.
Die Ausbildung lokaler irakischer Sicherheitskräfte sei ein unschätzbares Werkzeug, um Stabilität aufzubauen und den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. Stoltenberg bekräftigte zudem, dass die Alliierten zur Zurückhaltung und Deeskalation aufriefen. Der Iran solle von weiteren Provokationen absehen.
Der Einfluss Teherans im Irak stützt sich vor allem auf pro-iranische Parteien, die etwa die Hälfte des Parlaments beherrschen. Hinzu kommen die 2014 für den Kampf gegen den IS gegründeten sogenannten Volksmobilisierungseinheiten. Diese gut bewaffneten Brigaden bilden mittlerweile einen Staat im Staate. Sie entziehen sich der Autorität der irakischen Regierung, unterlaufen alle Reformanstrengungen bei den Sicherheitskräften und sind für zahlreiche politische Morde und Entführungen verantwortlich.
Wie die Hisbollah in Beirut haben auch die pro-iranischen Hashed-Milizen mittlerweile die Sicherheitskontrollen auf dem Internationalen Flughafen in Bagdad unter ihrer Regie. Ihr starker Mann war Abu Mahdi al-Muhandis, der zusammen mit Soleimani getötet wurde. Auf das Konto von dessen Kataib-Hisbollah-Miliz gehen die meisten anti-amerikanischen Anschläge seit Mitte 2019, die an Silvester im Sturm auf die US-Botschaft in Bagdad gipfelten.
Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer richtete einen klaren Appell Richtung Teheran. „Die, die in der Vergangenheit für eine Eskalation gesorgt haben – der Iran –, müssen zur Deeskalation beitragen.“ Die Bundeskanzlerin und der Außenminister würden das ebenso sehen.