Berlin. Kanzlerin Merkel übernimmt im Juli die EU-Ratspräsidentschaft, von der Leyen ist EU-Kommissionspräsidentin. Wir blicken auf ihre Ziele.
Angela Merkel hat das Jahr 2020 als deutsche Regierungschefin begonnen. Nach all den innenpolitischen Krisen ihrer letzten Amtszeit als Kanzlerin ist das schon ein kleines Wunder. Sie hat nicht hingeschmissen, sondern das Jahr der deutschen Ratspräsidentschaft als Kanzlerin erreicht. Denn am 1. Juli 2020 übernimmt die Bundesrepublik die halbjährige Führung in Europa.
Doch wie lange wird Merkel Deutschland noch führen? Wenn es nach ihr geht, bis zum regulären Ende der Legislaturperiode 2021. Die Umfragen zum Jahresende, in denen sie die Beliebtheitsskalen der Politiker nach wie vor anführt, dürften sie darin bestärken. Es wäre für sie ein stiller Triumph, die deutsche Ratspräsidentschaft als Regierungschefin zu gestalten. „In den vergangenen Jahren habe ich oft gesagt, dass es auch Deutschland auf Dauer nur dann gut geht, wenn es auch Europa gut geht. Denn nur in der Gemeinschaft der Europäischen Union können wir unsere Werte und Interessen behaupten und Frieden, Freiheit und Wohlstand sichern“, hatte sie in ihrer Neujahrsansprache an Silvester gesagt.
Sie forderte Europa dabei auf, seine Stimme stärker in der Welt einzubringen. Deutschland werde sich dafür einsetzen, etwa durch einen Gipfel aller Mitgliedstaaten mit China und ein Treffen mit den Staaten Afrikas. Es ist Merkels Überzeugung, dass Europa im Spiel der Weltmächte China und Amerika nur durch Gemeinsamkeit punkten kann.
Merkel plant nach dem Brexit eine „spezielle Partnerschaft“
Umso mehr, als der Brexit am 31. Januar um Mitternacht nach vielem Hin und Her ansteht. Großbritannien wird Drittstaat, es beginnt allerdings sofort eine Übergangsphase bis Ende 2020, in der verhandelt wird. Merkel will eine „spezielle Partnerschaft“, enge Handelsbeziehungen und enge Zusammenarbeit etwa zur Abwehr von Terror. Bezieht man die Wünsche aller Seiten ein, wird der Vertrag ein extrem kompliziertes Gebilde, der binnen weniger Monate stehen soll. „Unser größter Knackpunkt wird sein, dass wir diese Verhandlungen sehr schnell machen müssen“, sagte Merkel jüngst in Brüssel. Denn würden diese scheitern, stünde man Ende nächsten Jahres wieder vor großer Ungewissheit.
Eine weitere Herausforderung werden für die Kanzlerin die Verhandlungen über den mittelfristigen Finanzrahmen. Wofür soll Geld ausgegeben werden? Und welche Mehrbelastung ist Nettozahlern wie Deutschland zuzumuten? Vorerst geht es um die Zehntel hinterm Komma: Sollen 1,0 oder 1,07 oder 1,114 Prozent der Wirtschaftskraft in den Gemeinschaftshaushalt fließen?
Klingt kleinteilig, doch macht jedes Pünktchen angesichts der riesigen Wirtschaftskraft der EU Milliardenbeträge aus. „Die Spielräume sind sehr, sehr klein“, heißt es aus dem Kanzleramt. Die Bundesregierung wird also erst einmal mal bei ihrer Position bleiben, nicht mehr als ein Prozent der Wirtschaftsleistung nach Brüssel abzuführen. Das bedeute heute viel mehr als vor sieben Jahren, heißt es auf den Vorwurf, dass die Summe zu klein sei, um alle Ausgaben der EU nach dem Austritt des Nettozahlerlandes Großbritannien zu finanzieren.
Ob Deutschland diese Position halten kann? Merkel weiß, dass ohne größeres finanzielles Engagement die Herausforderungen der EU – etwa im Bereich der Klima- und Sicherheitspolitik – kaum zu stemmen sind. Und mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sie einen Partner, der längst eine höhere Beteiligung Deutschlands einfordert.
Merkel will keinen Alleingang bei der Flüchtlingspolitik
Es gibt eine weitere große Baustelle, die Merkel bereits im Januar angehen will. Durch die anhaltende Gewalt in Syrien steigen die Flüchtlingszahlen an.
Merkel sucht wieder das Gespräch mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Auch hier wird es einen deutschen Alleingang nicht geben können. Nur in Abstimmung mit den europäischen Partnern können Fehler wie 2015 vermieden werden. Und das Zaubermittel bei Erdogan heißt ebenfalls Geld. Der türkische Präsident wird sich nicht abspeisen lassen.
Merkel, die kurz vor Weihnachten die Zeit der Kanzlerschaft von Konrad Adenauer übertraf (14 Jahre, einen Monat und zwei Tage), muss die EU also nicht nur zusammenhalten, sondern vorantreiben. „Die 20er-Jahre können gute Jahre werden. Überraschen wir uns einmal mehr damit, was wir können“, sagte die 65 Jahre alte Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache. Diesen Optimismus wird sie brauchen.
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Denn neben den großen Herausforderungen steht sie daheim einer großen Koalition vor, die sich zumindest auf SPD-Seite eher zum Regieren quält. Die Chancen, dass die schwarz-rote Koalition trotzdem hält, sind gestiegen. So haben die neuen SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans nach ihrer Wahl Ruhe signalisiert. Die nächste reguläre Wahl ist im Herbst 2021, wenn der nächste Kanzler dann erst kurz vor Weihnachten 2021 gewählt würde, dann hätte Angela Merkel nicht nur Konrad Adenauer eingeholt, sondern auch Helmut Kohl: Der war 16 Jahre und 27 Tage im Amt. Ist ihr das wichtig? Nein. Aber den 1. Juli 2020 will sie gerne als deutsche Kanzlerin erleben. Es wäre die Krönung ihres Einsatzes für Europa. Und, bei Erfolg, ein politisches Vermächtnis.
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2020 ist das entscheidende Jahr für Ursula von der Leyen
Für EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird 2020 das entscheidende Jahr im neuen Amt. Wird sie eine erfolgreiche „Mrs Europa“, deren globales Markenzeichen der Klimaschutz ist? Oder scheitert die Präsidentin schon auf den ersten Metern mit ihren großen Ambitionen, weil ihr das Geld fehlt und die Unterstützung der Mitgliedstaaten? Beides ist möglich – und es wird sich in den kommenden zwölf Monaten herausstellen.
Die ehrgeizigen Klima- und Umweltschutzziele der EU-Kommission, die von der Leyen als „Green Deal“ anpreist, werden das bestimmende Thema ihres ersten Jahres sein.
Schon Mitte Januar will die Kommission ihre milliardenschweren Pläne für einen Übergangsfonds vorlegen, mit dem die europäischen Kohleregionen (auch in Deutschland) und einzelne Wirtschaftssektoren beim Umstieg auf Klimaschutz gefördert werden sollen. Dann geht es Schlag auf Schlag: Ende Februar wird von der Leyen ein Gesetz präsentieren, das für die EU bis 2050 das Ziel der Klimaneutralität festschreiben soll. Im Sommer will die Kommission festlegen, wie massiv zu diesem Zweck die Klimaschutzziele für 2030 verschärft werden müssen – soll das C02-Reduktionsziel von 40 Prozent auf 50 oder gar auf 55 Prozent (im Vergleich zu 1990) erhöht werden? Widerstand aus der Wirtschaft ist zu erwarten.
Zur Besänftigung plant die Kommission aber für 2020 eine neue Industriestrategie. Dazu kommen Pläne für klimafreundliche Mobilität, die Förderung der Batterietechnologie bei E-Autos, eine Sanierungswelle im Bausektor oder eine neue Strategie für die Kreislaufwirtschaft. Schon in den ersten Monaten will die Präsidentin auch eine Initiative für einen europäischen Mindestlohn und für die europäische Regulierung der künstlichen Intelligenz vorlegen.
Für ihre EU-Strategie braucht Ursula von der Leyen Geld
Doch Erfolg wird von der Leyen hier und an anderer Stelle nur haben, wenn die Kommission über mehr Geld verfügt als bisher. Das künftige Sieben-Jahres-Budget ab 2021 ist unter den Mitgliedstaaten umstritten: Im Raum steht die Forderung der alten Kommission, das jährliche EU-Budget von derzeit rund 150 Milliarden Euro ab 2021 strukturell um gut zehn Prozent auszuweiten, um neue Aufgaben zu finanzieren; von der Leyen braucht eigentlich noch mehr Geld, doch die Nettozahler unter den Mitgliedstaaten sperren sich, überhaupt zusätzliche Mittel nach Brüssel zu überweisen.
Es ist die Ironie des Schicksals, dass die ehemalige Bundesministerin in diesem entscheidenden Moment auf die Hilfe ihrer früheren Chefin angewiesen ist: Kanzlerin Angela Merkel wird eine zentrale Rolle spielen bei den Verhandlungen über das künftige EU-Budget. Vermutlich wird der hässliche Streit erst in der zweiten Jahreshälfte geklärt, wenn Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Hilft Merkel von der Leyen – oder bremst die Kanzlerin die Präsidentin aus, indem sie die deutsche Schatulle verschlossen hält?
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Große Erwartungen, der Brexit und die Strafzölle
Auch ist noch offen, wie sehr die deutschen Pläne für die Ratspräsidentschaft zu von der Leyens Fahrplan passen. Die Präsidentin hat mit der Ankündigung, sie wolle eine „geopolitische Kommission“ führen, große Erwartungen an eine stärkere Rolle Europas auf der internationalen Bühne geweckt.
Schon zum Jahresanfang wird sie wohl US-Präsident Donald Trump in Washington besuchen; angesichts der schwelenden Drohung Trumps, Europa mit Strafzöllen zu überziehen, wird das kein ganz einfacher Besuch.
Und dann ist da noch der Brexit: Die Verhandlungen über die künftigen Verträge mit Großbritannien, vor allem über ein Handelsabkommen, müssen eigentlich bis Ende 2020 abgeschlossen sein. Eine enorme Herausforderung für die Kommission, die die Verhandlungen mit London führt. Anfang des Jahres will sich von der Leyen mit dem britischen Premier Boris Johnson treffen.